Preisträger*innen 2020

»Für Sama (OT: For Sama)«

von Waad al-Kateab und Edward Watts, Dokumentarfilm, 2019, 99 Minuten

© Filmperlen

Synopsis

Die Filmemacher Waad al-Kateab und Edward Watts haben einen beeindruckenden Film gedreht. FÜR SAMA ist ein Vermächtnis an al-Kateabs im Krieg geborene Tochter. Über Jahre hat die junge Frau mit ihrem Handy und ihrer Kamera zunächst die Protestbewegungen und dann den furchtbaren Krieg in Syrien dokumentiert. Sie hat das Leid der Menschen und der Personen in ihrer unmittelbaren Nähe aufgezeichnet und findet selbst inmitten der Bombardements Spuren von Freude und Lebensmut. Gerade durch diesen Blick von innen heraus ist der Film so besonders, so wahr, so entsetzlich und unfassbar. Und doch ist er auch ein Zeugnis für das Miteinander der Menschen, für den Zusammenhalt in Krisenzeiten und für Toleranz. Der in Cannes ausgezeichnete und für den OSCAR nominierte, preisgekrönte Film FÜR SAMA ist ein Liebesbrief der jungen Mutter Waad al-Kateab an ihre Tochter Sama. Über einen Zeitraum von fünf Jahren erzählt sie von ihrem Leben im aufständischen Aleppo, wo sie sich verliebt, heiratet und ihr Kind zur Welt bringt, während um sie herum der verheerende Bürgerkrieg immer größere Zerstörung anrichtet. Ihre Kamera zeigt berührende Episoden von Verlust, Überleben und Lebensfreude inmitten des Leids. Waad muss sich entscheiden, ob sie fliehen und ihre Tochter in Sicherheit bringen oder bleiben und den Kampf für die Freiheit weiterführen soll, für den sie schon so viel geopfert hat.

Jurybegründung

„This is Aleppo. What’s justice“, steht in schwarzer Schrift auf einem rosafarbenen Stück Karton. Ein kleines Mädchen hält das Plakat in der Hand – und steht zugleich irgendwo in der Ruinenlandschaft Aleppos. Dies ist nur eine von vielen bewegenden Szenen in Waad al-Kateabs und Edward Watts Dokumentarfilmwunder „Für Sama“. 

Über einen Zeitraum von fünf Jahren hat die junge Journalistin sowohl die Protestbewegungen wie das unsägliche Leid im kriegszerstörten Syrien per Smartphone und digitaler Spiegelreflexkamera aus nächster Nähe und unter dem Einsatz ihres Lebens dokumentiert. Zugleich wurde Waad al-Kateab im selben Zeitraum selbst Mutter, Ehefrau und durch die Arbeit zur Filmemacherin, was ihrem zusammen mit Edwards Watts entstandenem Zeitstück eine extrem hohe Authentizität verleiht. 

Dabei ist „Für Sama“ sowohl ein dokumentarisches Zeugnis erster Güte als auch der aufrichtige Liebesbrief einer jungen Regisseurin an ihre in den Kriegswirren geborene Tochter. Trotz alptraumhafter Bilder aus der Belagerung Aleppos konfrontiert sie den Zuschauer immer wieder bewusst mit Momenten voller Zärtlichkeit, Menschlichkeit und Humor, die ihren tagebuchartig erzählten Film dramaturgisch wirkungsvoll strukturieren und ihn somit von bloßer journalistischer Zeugenschaft deutlich abgrenzen. 

Zudem brilliert „Für Sama“ durch seinen radikal weiblichen Regieblick sowie die zentrale Erzählperspektive aus der Sicht einer Kleinfamilie, wie das in Dokumentarfilmen zum Krieg in Syrien bisher noch nie zu sehen war. Zwischen Krankenhausbombardements, getöteten Zivilisten und allgegenwärtigen Schuttbergen erzählt sie von großem Überlebensmut und unbändiger Hoffnung angesichts stetiger Eskalation. 

Durch seine klug montierte, durchgängig fesselnde Mixtur aus dokumentarischer Nähe, gesellschaftspolitischem Engagement und gelebter Humanität konnte er die Jury begeistern. „Für Sama“ ist ein zeithistorisch enorm wichtiger, politisch außerordentlich relevanter und hochemotionaler Dokumentarfilm voller Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit, der durch den langen Atem des Regieduos Stellung bezieht, in jeder Minute berührt und zutiefst aufrüttelt. 

„Für Sama“, so urteilt die Jury“, ist ein Film der wehtut und den jeder in der Welt sehen muss, auch wenn es teilweise nicht auszuhalten ist, was in seiner Drastik wie in seinem extrem subjektiven Fokus für manche Zuschauer auch manipulativ wirken kann. 

Zugleich tritt dieser schreckliche schöne, unvergessliche Dokumentarfilm trotz des allgegenwärtigen Kriegshorrors jederzeit für umfassende Solidarität und den Glauben an das Gute im Menschen ein, wofür es zum Beispiel in einer der eindrücklichsten Szenen auf einer Geburtsstation auch während des Bombenhagels nie zu spät ist. 
Aus diesem Grund gewinnt „Für Sama“ den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis in der Kategorie Langfilm. Herzlichen Glückwunsch!

Autor: Simon Hauck

»Ab 18! - Die Tochter von ...«

von Joakim Demmer, Verena Kuri und Chiara Minchio, Dokumentarfilm, 2019, 28 Minuten

aus "Ab 18! - Die Tochter von ..." ©Joakim Demmer, Verena Kuri und Chiara Minchio

Synopsis

Als Micaela drei Jahre war, wurde ihre Mutter entführt. Ihre Kindheit in Argentinien war geprägt von der Suche nach der Mutter. Mit 19 Jahren lebt Micaela erstmals allein - ohne Polizeischutz. In Argentinien gilt der Fall Marita Verón als Politikum. - Eine junge Frau, die von Menschenhändlern auf offener Straße verschleppt wurde, und bis heute verschwunden ist. Und ihre Tochter, die angetrieben von der kämpferischen Großmutter, von klein an auf der Suche war. Wie lebt man ein Leben, in dem man in erster Linie "die Tochter von" ist? Micaelas Großmutter, Susanna Trimarco, wurde in Argentinien zur nationalen Ikone und zur Mitbegründerin einer stetig wachsenden Frauenbewegung. Micaela dagegen muss ihren Weg erst noch finden. Dazu gehört auch, ihre Heimatstadt Tucumán sowie das Haus und die Einflusssphäre der übermächtigen Verwandten zu verlassen. Ein Neuanfang gelingt ihr in der argentinischen Universitätsstadt Córdoba, wo die 19jährige erstmals alleine und ohne Personenschutz lebt. Die junge Frau, deren Gesicht immer wieder in den Nachrichten war, möchte ihre Vergangenheit hinter sich lassen, und sich nicht mehr nur über die Opferrolle identifizieren müssen. Ihre Freundin Mica, wie auch ihr Hund Charly, vor allem aber das Erstarken der feministischen Bewegung in Argentinien, geben ihr dabei den nötigen Halt.

Jurybegründung

Laudatio von ChrisTine Urspruch

„ Die Tochter von… Punkt Punkt Punkt. Schon im Titel des Films von Verena Kuri und Joakim Denner manifestiert sich das Thema des Verschwundenen,  der Lücke.

Die  bezaubernde Protagonistin des Dokumentarfilms, Micaela Veron, gewährt uns persönliche wie politische Einblicke in das Geschehen ihres Landes Argentinien der letzten zwei Jahrzehnte.  Ihre Mutter, die emanzipierte Freiheitskämpferin und Frauenrechtlerin Marita Veron wurde aus politischem Kalkül von mafiösen Staatsapparaten entführt und gilt seitdem als verschwunden. Micaela ist damals noch keine vier Jahre alt.

Sie begibt sich mit zunehmenden Alter auf die Suche ihrer eigenen Identität, die, ihrer Mutter, die ihres Landes.

Immer wieder gerät die junge Protagonistin in den Interviewpassagen ins Stocken, was für ihre Unschuld und gleichzeitig für ihre große Selbstreflexion und innere Reife spricht.

Die Kameraführung kommt Micaela Veron sehr nahe, ohne sie zu bedrängen. Ein weiter Raum für Ort und Zeit  bei vielen offenen Fragen bleibt. Tag- und Nachtbilder wechseln sich gleichbedingt ab. So entsteht auf ganz unaufdringliche Art ein Porträt der Spurensuche, der Lebensfreude und schließlich der Identitätssuche.

Zum Selbstschutz verzichtet sie auf den persönlichen Polizeischutz, zieht in eine neue Stadt und gewinnt durch Abstand und Neutralität an neuer Persönlichkeit.

Hier erzählt eine suchende, starke Persönlichkeit ihre eigene Geschichte und von den politischen Bewegungen ihres Landes Argentinien. Von Unterdrückung und von Aufbruch, von der Lücke und Entbehrung und von Hoffnung.

Micaela kämpft als junge Studentin für Feminismus und für Freiheitsliebe. Die Geschichte ihrer Mutter setzt sich durch sie fort.

Der Film berührt uns, weil er uns verdeutlicht, wie wichtig es ist, unseren eigenen Weg mit Mut und Willenskraft zu gehen, seien die Umstände noch so schwer.

„Dinge, die ich heute noch nicht zu denken wage, können morgen schon Realität sein“, so Micaela Veron, die Tochter von … Punkt, Punkt, Punkt.  Die Jury war sehr beeindruckt! Herzlichen  Glückwunsch!

Link zum Film

 

 

Biografien

Joakim Demmer (Regisseur, Produzent) ist in Schweden geboren und aufgewachsen. Im Jahr 1995 nahm Joakim ein Regiestudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie(dffb) auf. Sein Abschlussfilm „TARIFA TRAFFIC (CH/DE 2003), ein Dokumentarfilm über die dramatische Flüchtlingssituation vor der Küste Spaniens, lief auf zahlreichen Festivals und wurde mehrfach preisgekrönt. In den folgenden Jahren realisierte Joakim Demmer eine Reihe von Reportagen und TV-Dokumentarfilmen, meist über politische und soziale Themen. Sein Kino-Dokumentarfilm DEAD DONKEYS FEAR NO HYENAS /DAS GRÜNE GOLD“ (SE/DE/FI 2016), über Landraub und fehlgeleitete Entwicklungshilfe in Äthiopien, lief unter anderem beim COP:DOX, Sheffield Doc/Fest, Münchner DOK.fest, IDFA und startete im Herbst 2017 in den deutschen Kinos.

Verena Kuri, (Regisseurin) wurde 1979 in Deutschland geboren und studierte Filmregie an der Universidad del Cine (FUC) in Buenos Aires, Argentinien. Sie ist Mitbegründerin und Produzentin der seit 2012 bestehenden Produktionsfirma Nabis Filmgroup, eine unabhängige Filmproduktionsfirma mit einem Fokus auf lateinamerikanische Produktionen. Ihr erster Spielfilm, UNA HERMANA, wurde 2016 auf den Filmfestspielen in Venedig uraufgeführt. Ihr zweiter Spielfilm, FAR FROM US, feierte die Weltpremiere im Forum der Internationalen Filmfestspiele Berlin, 2019.

Chiara Minchio, 1972 in Treviso Italien geboren, hat in Wien ein Studium der Malerei und Grafik an der Akademie der bildenden Kunst im Jahr 1996 abgeschlossen. Seit 2008 lebt und arbeitet sie in Berlin. Auch wenn Malerei das Medium ist, mit dem sie sich primär identifiziert, wächst seit ein paar Jahre das Interesse an Video und Film stetig. In ihrer letzten Produktion „Brote“, eine Reflektion über Ökonomie und Emanzipation in der Zeit von dem Turbo-Neoliberalismus, kombiniert Minchio Arbeiten auf Leinwand mit Videoaufnahmen und Animationen. Zurzeit arbeitet sie mit dem neuen Projekt „MICE“, das mit Hilfe von Malerei, Animationen und Found-Footage aus dem Internet, sich mit sexuellen Gewalt auseinandersetzt.

»Masel Tov Cocktail«

von Arkadij Khaet und Mickey Paatszch, Satire, 2020, 30 Minuten

aus "Masel Tov Cocktail", © Filmakademie Baden-Württemberg

Synopsis

Dimitrij Liebermann (19) ist Jude und hat Tobi geschlagen. Dafür soll er sich entschuldigen. Nur Leid tut es ihm nicht unbedingt. Auf dem Weg zu Tobi begegnet Dimitrij ein Querschnitt der deutschen Gesellschaft und immer wieder ein Problem, das es auszuhandeln gilt: Seine deutsch-jüdische Identität. Eine Bestandsaufnahme. 

Zutaten:
1 Jude, 12 Deutsche, 5 cl Erinnerungskultur, 3 cl Stereotype, 2 TL Patriotismus, 1 TL Israel, 1 Falafel, 5 Stolpersteine, einen Spritzer Antisemitismus, Zubereitung: Alle Zutaten in einen Film geben, aufkochen lassen und kräftig schütteln. Im Anschluss mit Klezmer-Musik garnieren. 

Verzehr:
Vor dem Verzehr anzünden und im Kino genießen. 100% Koscher.

Jurybegründung

„In deutschen Filmen werden Juden meist nur in schwarz-weiß gezeigt. Sie schlagen selten zurück. So ein Film ist das hier nicht“. Fühlen wir uns ertappt, wenn Protagonist Dima, so zu uns spricht und mit festem Blick in die Kamera seine Story eröffnet? Dima jedenfalls hat nicht gezögert und zugeschlagen nach einer üblen Provokation seines Mitschülers Tobi, einem antisemitischen Kotzbrocken. Was wird das also für ein Film sein, der ansatzlos das Nasenbein und die vierte Wand durchbricht? Einer, bei dem vieles auf den ersten Blick dann doch vertraut erscheint – gerade so, wie wir es aus Jugendfilmen kennen: eine Gewaltszene auf dem Schulklo, ein Held, der uns durch einen imaginären Dialog in seine innere Welt zieht, mit souveräner Hip-Hop-Attitüde erzählend von Liebe und Konflikten, von Identitäten und Diversitäten, von Ungerechtigkeit, Ressentiments und Mobbing. „Masel Tov Cocktail“ macht da keinen Unterschied – und doch: So ein Film ist er wirklich nicht! Denn gedanklich und ästhetisch katapultiert er uns viel weiter, als wir anfangs vermuten. Dima soll sich entschuldigen, was in seinen Augen das Opfer-Täter-Verhältnis krass verdreht. Die Figur des wehrhaften Jugendlichen – mit großer Präsenz verkörpert von Alexander Wertmann – spiegelt die Frage nach der Schuld zurück ins Publikum. Im selben Moment, da der erzählerische Raum aufgebrochen wird, bricht auch die Illusion einer Bewältigung von Holocaust-Erinnerungen. „Masel Tov Cocktail“ switcht entlang seiner Story locker durch satirische Clips und setzt immer wieder Akzente mit lehrreichen On-Screen-Spotlights auf Zahlen, Fakten und Umfragen. Mit gutem Timing werden pointierte Comedy-Szenen eingestreut. Und so nahbar Dima in ihnen auch erscheint, er will sich nicht gemein machen, will uns kein leichtes Mitgehen und Mitfühlen erlauben. Immer wenn wir glauben, Dima besser zu verstehen, sprengt er mit einem buchstäblichen Schlag gegen die Kamera die Inszenierung und verschiebt mit solch brachialen Schwenks die Zuschauerperspektive auf den nächsten skurrilen Aspekt eines Lebens als Kind einer jüdischen Migrantenfamilie aus der untergegangenen Sowjetunion.

Der „Masel Tov Cocktail“ kommt süffig daher, mit extrem herber Note im Abgang treffen Arkadij Khaet und Mickey Paatszch sehr geschmackssicher den Punkt: Ihr Film teilt in alle Richtungen aus und ist wohltuend respektlos bis zum verstörenden Schluss, der mit einem symbolischen Schlag ins Gesicht der Zuschauenden ein Ausrufungszeichen setzt.

»Just. Another. Month.«

von Charlotte Weinreich und Rosa-Lena Lange Dokumentarfilm, 2019, 22 Minuten

aus "Just. Another. Month.", ©Charlotte Weinreich und Rosa-Lena Lange

Synopsis

Weltweit haben mehr als 500 Millionen Menschen während ihrer Periode keinen Zugang zu Sanitärprodukten. Das betrifft vor allem die Länder des globalen Südens. Oft fehlen sowohl angemessene sanitäre Infrastrukturen in den Schulen, als auch adäquate Informationen zum Umgang mit menstrueller Gesundheit. Dieses Phänomen wird auch als Periodenarmut bezeichnet. Es führt zur Nutzung von unhygienischen Materialien, wie Blätter, Zeitungspapier oder Stofffetzen, was wiederum Infektions- und Krankheitsrisiken erhöht. In Namibia leiden viele Frauen und Mädchen nicht nur unter Periodenarmut, sondern vor allem darunter, dass die Menstruation als etwas Unreines, als Tabu, betrachtet wird. Dadurch werden sie während ihrer Periode oft daran behindert an gemeinschaftlichen Aktivitäten der Gesellschaft teilzunehmen oder komplett isoliert. Das Fehlen von Periodenprodukten und die Stigmatisierung der Menstruation untergraben das Prinzip der Menschenwürde und den Genuss grundlegender Menschenrechte. Außerdem gehören diese Faktoren zu den Hauptgründen, weshalb namibische Mädchen nicht zur Schule gehen können. 

Jurybegründung

Was hat Menstruation mit Schule zu tun? Jede Menge. Für unzählige Mädchen in Namibia heißt es Monat für Monat: Ohne Binden keine Bildung. Denn während ihrer Periode gehen viele von ihnen nicht in die Schule, weil sie sich keine Sanitärprodukte leisten können. Der Dokumentarfilm macht deutlich, welche Folgen die Periodenarmut für Frauen in Namibia hat. Doch es geht im Film um mehr als fehlende Binden und Tampons. Er greift tiefer und zeigt viele Menschenrechtsverletzungen auf, die Frauen widerfahren. Nur, weil sie menstruieren. Die beiden Filmemacherinnen Rosa-Lena Lange und Charlotte Weinreich geben in ihrem Film Namibierinnen den nötigen Raum, davon zu erzählen. Das macht diesen Film authentisch. Er gewährt aber auch Einblick in die Welt der Männer in Namibia, die kaum Kenntnisse über die Menstruation haben, aber viele Vorurteile, die in Ächtung der Frauen münden.

Dem Film gelingt es gleichzeitig, Frauen nicht als Opfer zu stilisieren. Die Zuschauer*innen merken: Es geht hier auch um Lösungen. Und diese kommen von Namibierinnen selbst. Wir lernen eine Frau kennen, die in ihrer NGO wiederverwertbare Binden herstellt. Wir sehen eine junge Aktivistin, die das Gespräch mit Männern sucht und ohne zu moralisieren Aufklärung betreibt. Wir sehen eine Journalistin, die das Thema Periodenarmut in die Öffentlichkeit bringt.

Die Jury hat diesem Dokumentarfilm den deutschen Menschenrechts-Filmpreis des Jahres 2020 in der Kategorie Non Professional zuerkannt, weil er sensibel, unaufgeregt in seiner Machart und aus verschiedenen Perspektiven die Periodenarmut und Ächtung der Menstruation in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Themen, die große Relevanz und große Berührungsangst auszeichnen. Nicht nur in Afrika. „We are embracing our nature“, sagt eine der namibischen Aktivistinnen im Film. Die eigene Natur zu umarmen, fällt auch vielen Mädchen und Frauen in Deutschland - in der westlichen Welt - immer noch schwer.

Pressematerial - Hintergrundinformationen

Rosa-Lena Lange und Charlotte Weinreich sind zwei Studentinnen aus Freiburg, die sich innerhalb ihres Bachelorstudiums in Sozialwissenschaften (Liberal Arts and Sciences) verstärkt mit Frauen*rechten und feministischen Theorien auseinandergesetzt haben. Im Zuge dessen sind sie auf die Menstruation und die kritischen sozialen Auswirkungen der Tabuisierung der Periode gestoßen.

 „Period Poverty“ (oder Periodenarmut), ein Phänomen, das tiefer liegende, soziale und geschlechterspezifische Ungleichheiten in vielen Ländern aufzeigt, ist auch in Namibia ein Problem. Es beschreibt das Fehlen von Periodenprodukten und die Stigmatisierung der Menstruation, wodurch das Prinzip der Menschenwürde und der Genuss grundlegender Menschenrechte untergraben wird.

Insbesondere durch die Geschichte der namibischen Aktivistin Terry Farrell, die nach dem tragischen Tod ihrer Cousine eine NGO gründete und seither wiederverwendbare Binden lokal produziert, sind die Studentinnen auf das Thema aufmerksam geworden. Sie beschlossen zu zweit mit der Kamera loszuziehen. Dabei begleiteten sie vor allem die beiden namibischen Aktivistinnen Terry Farrell und Tjova Raulinda, die sich gegen die Periodenarmut in Namibia einsetzen und für die Gleichberechtigung von Frauen kämpfen. In Interviews mit namibischen Frauen und Männern beleuchten sie außerdem die unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen der Menstruation und zeigen so, welche Schwierigkeiten Frauen und Mädchen in Bezug auf menstruale Gesundheit haben und welche sozialen Auswirkungen die Tabuisierung der Periode in der Gesellschaft hat.

»Masel Tov Cocktail«

von Arkadij Khaet und Mickey Paatszch, Satire, 2020, 30 Minuten

aus "Masel Tov Cocktail", © Filmakademie Baden-Württemberg

Synopsis

Dimitrij Liebermann (19) ist Jude und hat Tobi geschlagen. Dafür soll er sich entschuldigen. Nur Leid tut es ihm nicht unbedingt. Auf dem Weg zu Tobi begegnet Dimitrij ein Querschnitt der deutschen Gesellschaft und immer wieder ein Problem, das es auszuhandeln gilt: Seine deutsch-jüdische Identität. Eine Bestandsaufnahme. 

Zutaten:
1 Jude, 12 Deutsche, 5 cl Erinnerungskultur, 3 cl Stereotype, 2 TL Patriotismus, 1 TL Israel, 1 Falafel, 5 Stolpersteine, einen Spritzer Antisemitismus, Zubereitung: Alle Zutaten in einen Film geben, aufkochen lassen und kräftig schütteln. Im Anschluss mit Klezmer-Musik garnieren. 

Verzehr:
Vor dem Verzehr anzünden und im Kino genießen. 100% Koscher.

Jurybegründung

Warum fragt eigentlich nie jemand nach dem Rezept für gefillte Fisch? –

Dimitrij Liebermann, 19 Jahre alt, Jude und Hauptprotagonist in der 30-minütigen Satire Masel Tov Cocktail hat es satt, immer wieder mit Klischees und Fremdzuschreibungen über jüdisches Leben in Deutschland konfrontiert zu sein. Davon gibt es jede Menge und sie werden von ihm alle auf die Schippe genommen: Ob es der Mitschüler ist, der ihm versichern muss, dass es in seiner Familie keine Nazis gegeben hat oder die verständnisvolle Lehrerin, die Israel ganz toll findet und ihn in ihre Klasse einlädt, damit er über die Geschichte seiner Familie im Holocaust erzählt.

Die Jury in der Kategorie Bildung war sich sofort einig: Dieser Film ist ein Glücksfall, erfrischend frech, und hervorragend für Schule und politische Bildung geeignet. Er überzeugt als Jugendfilm genauso wie als Bildungsfilm mit starken Charakteren, ohne moralischen Zeigefinger, und ohne gefällig zu sein. Im Zentrum steht die Identitätssuche des Jungen Dimitrij (Dima) in all ihrer Ambivalenz und mit all den Zuschreibungen, mit denen sich Juden und Jüdinnen heute herumschlagen müssen. Die Story ist schnell erzählt und für junge Juden in Deutschland viel zu oft Alltag: Dima, dessen Familie im Ruhrgebiet lebt und aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert ist, wird mit plump antisemitischem Gestus beleidigt und wehrt sich. Er schlägt zu, bricht seinem Mitschüler die Nase, wofür er sich, so fordert es mit viel pädagogischem Pathos der Schulleiter, entschuldigen soll. Dazu kommt es nicht. Stattdessen spricht Dima uns als Publikum direkt an: Wie soll er damit umgehen? Was würden wir machen? Wie würden wir reagieren, wenn sich Leute immer wieder ein Bild von uns machen, das ihnen passt, aber mit der Realität nichts zu tun hat?

Der Film liefert für diese Auseinandersetzung ausreichend Diskussionsstoff und ausgewählte Fakten, die wie in Youtube als Infotafeln eingeblendet, von einem Sprecher nüchtern vorgetragen werden: z.B. glauben 69% aller Deutschen, dass ihre Vorfahren nicht zu den Täter*innen des Zweiten Weltkriegs gehörten. Und immerhin noch 29% glauben, dass ihre Vorfahren geholfen haben beispielsweise indem sie Juden versteckten – weit gefehlt, denn tatsächlich waren es nur 0,1%.

Masel Tov Cocktail schafft es in nur 30 Minuten alles Wesentliche zu erzählen und teilt dabei aus in alle Richtungen. Es ist „Auf-die-Zwölf-Regie“ in feinster Art. Die Kamera mischt sich wie ein zweiter Protagonist ein und verbündet sich mit der Hauptfigur. Auch das Ende passt hervorragend: mit schwarzer Blende offen, quasi ein weiteres Ende, dass sich im Kopf des Publikums abspielt und das zu weiteren Diskussionen einlädt. Alles in allem ein Sehgenuss mit viel Spaß, dabei gleichzeitig schön und schrecklich mit der richtigen Mischung aus Schock und Augenzwinkern – bitte mehr davon!