aus "Sieben Winter in Teheran" © Steffi Niederzoll
Teheran, 7. Juli 2007: Reyhaneh Jabbari, 19, hat ein Geschäftstreffen mit einem neuen Kunden. Ein ganz normaler Tag, der ihr Leben jedoch für immer verändern wird. Denn als der Mann versucht, sie zu vergewaltigen, ersticht sie ihn in Notwehr und flieht. Am gleichen Tag wird sie verhaftet und bald darauf des Mordes angeklagt. Trotz vieler Beweise, die auf Notwehr hindeuten, hat Reyhaneh vor Gericht keine Chance, da ihr Vergewaltiger ein mächtiger und exzellent vernetzter Mann war, der - selbst nach seinem Tod - von der patriarchalen Gesellschaft geschützt wird. Reyhaneh wird zum Tode verurteilt. Ihr persönlicher Kampf für die Gerechtigkeit beginnt. Dank heimlich aufgenommener Videos, die von Reyhanehs Familie zur Verfügung gestellt wurden, ihrer Zeugenaussagen, der Briefe, die Reyhaneh im Gefängnis geschrieben hat, und anderer Archive zeichnet der Film den Prozess, die Inhaftierung und das Schicksal dieser Frau nach, die zum Symbol des Widerstands wurde. Ihr Kampf für die Rechte der Frauen spiegelt den Kampf so vieler Frauen wider, nicht nur im Iran.
Mit zum Teil undercover gedrehtem Material zeichnet die deutsche Regisseurin Steffi Niederzoll in „Sieben Winter in Teheran“ den Kampf von Reyhaneh Jabbari um ihr Leben nach. Die junge, iranische Frau saß sieben Jahre im Todestrakt, nachdem sie sich gegen eine versuchte Vergewaltigung mit einem Messer gewehrt hatte und dabei ihren Angreifer getötet hatte. Bis zur letzten Minute hoffte auch ihre Mutter, die im Iran sehr bekannte Schauspielerin Shole Pakravan, die inzwischen nach Berlin emigrieren konnte. Im Film sind es besonders ihre Aussagen, die uns ihre Tochter Reyhaneh sehr nahe bringen, sie noch einmal lebendig werden lassen, nicht nur als Opfer eines unmenschlichen Systems, sondern als eine aktive, sich wehrende, kraftvolle Kämpferin. Wir werden in dieser packenden, filmischen Erzählung Zeugen ihres Mutes und lernen die kluge, lebensfrohe Reyhaneh als eine Frau kennen, die unter furchtbaren Haftbedingungen für ihre Leidensgefährtinnen im Gefängnis zu einem stärkenden Halt wurde. Steffi Niederzoll gelingt es mit der Montage von Material aus höchst unterschiedlichen Quellen meisterhaft, eine Unmittelbarkeit der Schilderung herzustellen, die niemanden unberührt lässt. Sie rekonstruiert genau und mit immer spürbarem Mitgefühl das furchtbare Geschehen, den juristischen und politischen Kontext dieses Falls, der weltweite Solidarität hervorrief. Dieser erschütternde Film erinnert gerade in diesen Tagen auch an all jene, die heute im Iran von der Todesstrafe bedroht sind.
Steffi Niederzoll wurde 1981 in Nürnberg geboren. Sie studierte von 2001 bis 2007 audiovisuelle Medien an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) und der Escuela de Cine y Television in Kuba (EICTV). Ihre Kurzfilme liefen erfolgreich auf zahlreichen renommierten nationalen und internationalen Filmfestivals wie z. B. der Berlinale. Sie nahm an verschiedenen Regie-Masterclasses teil und war Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya, Türkei. Neben ihrer filmischen Tätigkeit beschäftigt sie sich auch mit interdisziplinären künstlerischen Arbeiten. Sie war Mitglied der Kerngruppe des Kollektivs „1000 Gestalten“, das während des G20-Gipfels in Hamburg mit seiner Performance weltweit für Furore sorgte. Ihre kollektiven Arbeiten wurden unter anderem auf dem Brecht-Festival, in der Kunsthalle Baden-Baden und im Museum für zeitgenössische Kunst in Roskilde und Vejle, Dänemark präsentiert. Gemeinsam mit Shole Pakravan schrieb sie das Buch „Wie man ein Schmetterling wird“, das am 26. Januar 2023 im Berlin Verlag erscheint. Sieben Winter in Teheran ist ihr erster langer Dokumentarfilm und ihr Debüt als Regisseurin.
Steffi Niederzoll © Aljaž Fuis
aus "Zelle 5 - Eine Rekonstruktion" © Mario Pfeifer
Am 7. Januar 2005 stirbt ein an Händen und Füßen gefesselter Asylbewerber bei einem Brand in der Zelle Nummer fünf eines Dessauer Polizeirevier. In Zelle 5 rekonstruiert Mario Pfeifer den Todesfall von Oury Jalloh anhand von Gerichtsdokumenten, Zeugenaussagen und audiovisuellen Archiven und arbeitet mit dem Forensiker Iain Peck zusammen, um ein exaktes Brandexperiment durchzuführen. Dies alles dient dem Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie Oury Jalloh zu Tode verbrennen konnte.
Die Filme des Produzenten und Regisseur Mario Pfeifer wurden u.a. bei IDFA, Vision du Réel und Dok Leipzig präsentiert. Zudem wurde er für den Prix Europa nominiert und mit dem Hessischen Filmpreis 2023 ausgezeichnet. Mario ist Fulbright- und DAAD-Alumni und nahm am Berlinale Talent Campus, an der Feature Expanded Masterclass, an der Documentary School Masterclass und am Europe Creator's Lab teil. Mario ist Absolvent der Städelschule Frankfurt am Main und studierte Film im Masterprogramm des California Institute of the Arts. Zu seinen Arbeiten sind mehrere Monografien bei Sternberg Press und Mousse Publishing erschienen. Mario war Artist-in- Residence am ISCP New York, Gasworks London und der Cité Internationale des Arts Paris. Er ist Mitglied der AG DOK und Geschäftsführer der Produktionsfirma blackboardfilms. Das im Rahmen der Filmproduktion entstandene Gutachten des britischen Forensikers Iain Peck wurde dem Generalbundesanwalt vorgelegt. Mittlerweile ist das Gutachten Teil der Klage der Familie Oury Jallohs am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg.
Zusätzliche Bemerkungen: Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh e.V. und die Familien Oury Jallohs finden es wichtig, dass die Tatortbilder im Film trotz ihrer Grausamkeit gezeigt werden und der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Zelle 5 – Eine Rekonstruktion wurde mit dem Hessischen Filmpreis 2023 ausgezeichnet.
Eine Gefängniszelle mit einer Pritsche wird in einem Flugzeughangar nachgebaut. Auf ihr liegt eine Menschenpuppe, die wiederholt in Flammen aufgeht. Bei einem Brand in der Zelle Nr. 5 des Dessauer Polizeireviers starb der an Händen und Füßen gefesselte Asylsuchende Oury Jalloh. Was genau passierte am 7. Januar 2005?
Dieser Film ist mehr als ein Dokument, sein Regisseur recherchiert, sieht genau hin – und er rekonstruiert einen fast schon 20 Jahren andauernden Prozess. Schauspieler*innen lesen in einem leeren Raum Zeugenaussagen, Gerichtsdokumente vor. Die Staatsanwaltschaft möchte den Fall schnell abschließen. Aktivisten, Freunde und Familienmitglieder von Oury Jalloh bezweifeln, dass sich der junge Mann und Vater eines kleinen Kindes selbst angezündet hat. Auffällig sind die eher sachlichen Worte der Polizisten, (der) Ermittler, (der) Gutachter. Mitgefühl oder Bedauern scheint es nicht zu geben. Mehr und mehr entwickelt sich die strenge, filmische Versuchsanordnung auch zu einer Studie über strukturellen Rassismus.
Die „Unabhängige Internationale Kommission zur Aufklärung des Todes von Oury Jalloh“ findet die Ermittlungen und forensischen Untersuchungen ungenügend. Mit dem britischen Forensiker Iain Peck führen sie ein genaueres Brandexperiment durch, das im Mittelpunkt dieses Films steht und das zum Ergebnis kommt: Oury Jalloh wurde von dritter Hand angezündet. Das Verfahren wird wieder aufgenommen. Die Familie von Oury Jallohs schöpft Hoffnung. Doch ihr Kampf um Gerechtigkeit ist noch lange nicht zu Ende. Ein Film rollt einen Fall neu auf, der nicht in Vergessenheit geraten darf.
Mario Pfeifer studierte Bildende Kunst und Film an der Städelschule Frankfurt am Main, der Universität der Künste Berlin, der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und war Fulbright Stipendiat am California Institut of the Arts. Seine Filme. Seine Arbeiten, die sich im Spannungsfeld zwischen gespielten Szenen, dokumentarischem Film und künstlerischer Installation bewegen, wurden auf zahlreichen internationalen Ausstellungen präsentiert und liefen auf internationalen Festivals wie dem IDFA, Vision du Réel, DOK Leipzig, Hofer Filmtagen oder dem London International Documentary Film Festival. Zelle 5 – Eine Rekonstruktion wurde 2023 mir dem Hessischen Filmpreis ausgezeichnet.
https://www.blackboardfilms.net/people
aus "MONITOR: Migrationskrise? Eine Gemeinde zeigt, wie es geht", © WDR
Die Migrationsdebatte läuft seit Wochen auf Hochtouren. Und immer wieder heißt es: Die Kommunen sind überfordert. Alle Kommunen? Keineswegs: Eine kleine Gemeinde bei München beherbergt viel mehr Geflüchtete, als sie eigentlich müsste. Und gibt sich keineswegs überfordert. Eine Reportage aus einem Ort, von dem Deutschland viel lernen kann. (Stand: Oktober 2023) Andreas Spinrath (CvD der Sendung) Georg Restle (Redaktionsleitung)
„Migrationskrise? Eine Gemeinde zeigt, wie es geht“ ist ein erfrischender Beitrag, der dem Rechtsruck in Deutschland ein filmisches „Gemeinsam können wir das schaffen“ entgegensetzt.
Die beiden Journalisten Herbert Kordes und Julius Baumeister zeigen, wie es den Menschen in der oberbayerischen Gemeinde Hebertshausen gelingt, fünf Mal so viele Menschen aufzunehmen, wie sie müssten – und diesen 230 Geflüchteten zudem eine Arbeit oder ehrenamtliche Tätigkeit zu organisieren. Möglich ist dies, weil ein CSU-Bürgermeister und eine Gruppe ehrenamtlicher Helfer es unbedingt wollen und daher Lösungen finden, die für sämtliche Beteiligten vorteilhaft sind:
Thematisch geht es unter anderem um:
– das Arbeitsverbot für Asylsuchende
– die empirisch belegte Sinnlosigkeit des Fischens von Stimmen am rechten Rand
– die psychische Lage von Menschen die alleine, ohne Sprachkenntnisse und Perspektive in Deutschland ankommen
– den Fach- und Arbeitskräftemangel in deutschen Betrieben
Die Jury möchte mit der Auszeichnung des Beitrags den Wert von konstruktivem Journalismus unterstreichen, der es nicht dabei belässt, über Missstände zu berichten, sondern der zugleich Lösungen aufzeigt.
Positiv fällt außerdem auf, dass die Geflüchteten als Individuen und nicht als anonyme Masse dargestellt werden. Ein Beispiel: „Wie geht es Dir?“ fragt einer der engagierten Bürger, ein Rentner, der täglich in die Geflüchtetenunterkunft radelt, um nach den Menschen zu schauen. Eine simple Frage, die zugleich von der Wahrnehmung des „Anderen“ als Menschen und nicht als „Fremden“ zeugt.
Wir wünschen uns mehr davon und danken der MONITOR-Redaktion für den Mut, dass sie diesen Umgang mit dem Reizthema „Migration“ gewählt hat. Mehr als 12.000 Kommentare auf der MONITOR-Seite zeigen, dass der Beitrag etwas bei den Zuschauenden ausgelöst hat. Neben den üblichen Abwehrreaktionen steht dort auch: „Der Film sollte als Pflichtprogramm in allen Schulen und politischen Gremien gezeigt werden.“
Julius Baumeister studierte Politikwissenschaft an der Universität Marburg, Journalismus am Journalistischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und sammelte erste journalistische Erfahrungen beim Magazin 11FREUNDE sowie der Süddeutschen Zeitung. Danach folgte ein Volontariat im Auslandsressort der Neuen Zürcher Zeitung. Seit September 2023 arbeitet er als freier Autor u.a. für das ARD Magazin Monitor und Sport Inside.
Herbert Kordes studierte Journalistik an der Universität Dortmund und ist seit 2018 freier Autor für die Redaktion Monitor und seit 2007 für die Redaktionen MARKT (WDR) und PLUSMINUS (ARD), Autor der Reihe Markencheck: u.a. „Aldi“ (WDR) sowie „Lidl“ und „ADAC“ (ARD).
Herbert Kordes © WDR
aus "Hausnummer Null", © Drop out Cinema
When Lilith comes to Berlin to study film, homeless Chris is the first person to welcome her. Chris lives with his buddy Alex at an S-Bahn station, cared for by the entire neighborhood. But he is an addict and unable to free himself from the vicious circle. As his general condition gets worse and worse, he decides that he has to get off the streets and off heroin. But can a young man find his place in our society, even though he has never fit in anywhere since childhood - or wanted to?
Als Lilith zum Filmstudium nach Berlin kommt, ist der obdachlose Chris der Erste, der sie willkommen heißt. Chris lebt mit seinem Kumpel Alex an einer S-Bahn-Station, betreut von der gesamten Nachbarschaft. Doch er ist süchtig und schafft es nicht, sich aus dem Teufelskreis zu befreien. Da sich sein Allgemeinzustand immer weiter verschlechtert, beschließt er, von der Straße und vom Heroin wegzukommen. Aber kann ein junger Mann seinen Platz in unserer Gesellschaft finden, obwohl er seit seiner Kindheit nirgendwo reingepasst hat – oder wollte?
Chris ist ein obdachloser junger Mann in Berlin, der Heroin konsumiert. Gleich zu Beginn zeigt uns die Kamera schonungslos im großen Bild, wie er das macht. Die Nahaufnahmen zeigen aber auch: Chris ist ein Mensch mit Träumen, seelischen Wunden, Verletzlichkeiten.
Wir verstehen unmittelbar wie verloren und hart das Leben in der Obdachlosigkeit und in der Drogenszene ist. Das Bild des Schlafplatzes an der S-Bahn-Station prägt sich als kalter und einsamer Ort ein. Wie oft ist man schon an Obdachlosenlagern vorbei gegangen, wie oft wurde man angeschnorrt, wie oft sieht man Leergutsammler und Zeitungsverkäufer in der S-Bahn? Ebenso, wie sie keine Adresse haben, haben sie auch keinen Platz in der Gesellschaft und in unserer Wahrnehmung.
Der Film von Lilith Kugler macht für 1,5 Stunden das Wegsehen unmöglich – und kommt dabei ganz ohne Fingerzeig aus.
Wir erleben dabei beides: Wie Chris Gesundheit sich verschlechtert und wie er zugleich um eine Struktur im Alltag, um eine Perspektive und letztlich um seine Würde kämpft. Die authentische Erzählweise schafft eine Nähe zu Chris, ohne ihn zu entblößen oder zur Schau zu stellen. Dabei spielt auch die sensible Kameraführung eine entscheidende Rolle, die niemals aufdringlich ist und dadurch dazu beiträgt dem Protagonisten trotz der Abgründe Würde zu verleihen.
Der Film verklärt nichts. Er bietet genügend Raum für die Erkenntnis: Es mag sehr nachvollziehbare Gründe geben, weswegen jemand suchtkrank und obdachlos wird. Das Bemühen, eine Abwärtsspirale zu durchbrechen, ist komplex. Chris gelingt es durch eine gute Substituierung, die es ihm ermöglicht, wieder in vier Wänden zu leben und auch eine Arbeit aufzunehmen.
Unaufgeregt und offen für eigene Einordnung ist „Hausnummer Null“ auch bei diesem Thema – die Hilfe, die Chris von den Menschen um ihn herum erfährt. In seinem Leben gibt es nämlich Kumpel Alex und eine engagierte Nachbarschaft rund um seinen Schlafplatz am S-Bahnhof. Ihre Unterstützung ist ein kleiner Hoffnungsschimmer für unsere Gesellschaft. Aber diese Menschen werden nicht zu edlen Retter*innen stilisiert.
Ob für Chris alles gut wird? Das lässt der Film offen. Chris sagt selbst, dass es noch nicht vorbei ist. Und auch das sagt er zum Schluss: „Am meisten habe ich Angst davor, vergessen zu werden.“ Der Film trägt dazu bei, dass es nicht passiert. Am Ende bleibt bei Zuschauer*innen viel Empathie für Chris und Menschen wie ihn. Ein Gefühl, das wir momentan in der Welt dringend brauchen. Auch dafür hat die Jury dem Film von Lilith Kugler den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis des Jahres 2024 verliehen.
"Alles gehört zu dir", © Hien Nguyen, Mani Pham Bui
Dreh's Um ist ein künstlerisch-sozialer Filmworkshop, der den Perspektivwechsel in der deutschen Filmindustrie fördert. Vietdeutsche Jugendliche (14-24 Jahren, Non Professionals) werden über den Zeitraum von einem Jahr durch sämtliche Produktionsschritte des Filmemachens geführt und professionell begleitet. Sie richten den Blick und die Kamera auf ihre eigenen Familien- und Freundeskreise und gestalten so persönliche und einzigartige Kurzfilme. Ziel des Workshops ist es die eigenen, wertvollen Geschichten der vietdeutschen Community selbst zu vertreten und den Filmnachwuchs in Deutschland nachhaltig zu fördern, um so eine diverse Teilhabe an Filmhochschulen und in der Branche langfristig zu stärken. 2022 wurde Dreh’s Um mit dem renommierten Dieter Baacke Preis für herausragende medienpädagogische Projekte und Methoden ausgezeichnet. „Es geht einerseits ums Filmedrehen und andererseits darum, sich der eigenen Perspektive zu ermächtigen, die Kamera selbst in die Hand zu nehmen, sie im übertragenen Sinne auf sich selbst zu richten – weg vom weißen, oft stereotypen Blick auf unsere Community“, sagt Dreh’s Um-Initiator Duc Ngo Ngoc.
Anders zu sein oder sich nicht zugehörig zu fühlen ist für viele vietnamesisch-deutsche und insbesondere für Yen Nguyen kein fremdes Gefühl. Instinktiv wird sie mit dem Gefühl übermannt, sich in der deutschen Kleinstadt der Masse anpassen zu wollen. Mehr weiß sein, mehr deutsche Freund*innen haben. Aus ihrem neuen Leben in Oslo - 900 km entfernt von der Familie, begibt sie sich auf die Reise zurück zu ihren Wurzeln: Yens Reise und Auseinandersetzung mit Selbstakzeptanz, Identität und Familie.
Die junge Deutsch-Vietnamesin Yển NguYển lebt in Oslo und kommt zum Jahresende nach Berlin, um beim Neujahrsfest Tệt bei ihrer Familie zu sein. Durch ihr Leben in der neuen Umgebung in Oslo fühlt sich Yển sprachlich herausgefordert und beginnt, darüber nachzudenken, wie schwer es ihren Eltern gefallen sein muss, sich eine Existenz in Deutschland aufzubauen.
Protagonistin Yển lässt uns Zuschauende in einem unaufgeregten dokumentarischen Portrait teilnehmen an einem Ausschnitt ihres Lebens. Die Kamera ist nah bei ihr und hält tagebuchartig ihre Impressionen und Gedanken fest. Ein intimer und vertrauter Blick gelingt auch dadurch, dass Yểns Bruder Hiện sie an vielen Stellen filmisch begleitet und seine Aufnahmen in den Film einfließen. Wir nehmen daran teil, wenn ein Festessen zelebriert wird, wir erleben die Leidenschaft, Offenheit und bedingungslose Liebe ihrer Stiefmutter. Wir nehmen auch Anteil, wenn Yển die Tränen kommen, als sie realisiert, wie schwer ihr Vater als Koch in seinem Imbiss arbeitet.
Feiertage zum Jahreswechsel sind Momente für Rückblicke und Ausblicke. Yển schaut zurück auf eine Kindheit und Jugend, in der sie als migrantisches Kind um Akzeptanz und Zugehörigkeit in Deutschland gerungen hat. Sie fühlte sich wohl und aufgehoben bei ihren Freundinnen mit vietnamesischen Wurzeln. Doch es war ihr auch wichtig, in einem Kreis von einheimischen Freundinnen Anerkennung und Akzeptanz zu finden auf ihrem Weg. Yển spricht darüber sehr offen, selbstkritisch und am Ende vor allem sich selbst akzeptierend.
Es sind solche Erfahrungen und Reflexionen, die unsere Identität prägen. Identität entsteht aus vielen Facetten, die sich auch widerstreitend anfühlen können. Es hat viel mit Selbstwahrnehmung zu tun. Aber auch damit, wie andere auf uns blicken. Umso bewundernswerter, wie Yển zu der bestärkenden Erkenntnis kommt: Alles gehört zu dir. Ein Fazit, das wir mitnehmen dürfen für einen souverän entspannten Blick auf unser eigenes Werden und Sein - und letztlich auch für die Wertschätzung einer bereichernden Vielfalt in unserem gesellschaftlichen Leben, zu dem gerade Menschen mit migrantischen Erfahrungen ganz viel beitragen.
Mani Pham Bui, Jahrgang 2001, war von 2021–2022 Teil des Berliner Dokumentarfilm-Projekts „Dreh’s Um“. Das Projekt möchte zur verstärkten Repräsentation vietdeutscher Menschen und deren Präsenz in der deutschen Filmbranche beitragen und wurde 2022 mit dem Dieter Baacke Preis für herausragende Projekte der Medienpädagogik ausgezeichnet. Bei ALLES GEHÖRT ZU DIR führte Mani gemeinsam mit dem Bruder der Protagonistin Hien Nguyen Regie. Mani studiert Kommunikationsdesign in Berlin und absolviert aktuell ein Praktikum im Bereich Creative Direction bei Disney in Singapur.
Hien Nguyen, aufgewachsen in Neustrelitz, Mecklenburg-Vorpommern, lebt seit seinem 19. Lebensjahr in Berlin. Als Sohn vietnamesischer Vertragsarbeiter prägt seine kulturelle Identität sein kreatives Schaffen. Sein erster Kurzdokumentarfilm “Alles gehört zu dir”, der die Erfahrung der Ausgrenzung im ländlichen Ostdeutschland thematisiert, wurde auf nationalen und internationalen Filmfestivals mehrfach ausgezeichnet, darunter beim interfilm Berlin, up-and-coming Filmfestival Hannover und beim FiSH Filmfestival in Rostock. Der Film wurde zudem in das Bildungsprogramm der DOK.education 2024 des DOK.fest München aufgenommen und ist Teil des medienpädagogischen Begleitmaterials in Filmbildungsworkshops für Schulklassen. Die Deutsche Filmakademie hat "Alles gehört zu dir" in das Kurzfilmprogramm "spots" integriert, wodurch der Film in ganz Deutschland in Kinos und Kulturzentren gezeigt wird. In Hiens zweitem Filmprojekt "Zuhause ist dort, wo die Sternfrüchte sauer sind" lag sein Fokus insbesondere auf der Montage des Films.
aus "Fünfzehn Minuten", © Sejad Ademaj
Als Jasmina nach dem Abendessen mit den Eltern Hausaufgaben macht, ruft ihr Freund Lukas an und möchte sie überreden, nach draußen zu kommen. Während die beiden noch telefonieren, klingelt es an der Tür. Statt Lukas steht dort die Polizei. Sie teilt Jasmina und ihren Eltern mit, dass sie innerhalb von fünfzehn Minuten abgeschoben werden. Für Jasmina bricht eine Welt zusammen. Die langersehnte Klassenfahrt nach Berlin und ihre Pläne, Lukas dabei näher kennenzulernen, sind dahin. In ihrer Verzweiflung ruft Jasmina Lukas an, der mithilfe seiner Mutter die Anwältin ist, helfen möchte.
Der Kurzfilm von Sejad Ademaj beginnt mit einer Triggerwarnung: „Dieser Film enthält Szenen, die Zuschauer*innen als aufwühlend empfinden könnten. Es werden die Themen Abschiebung und selbstverletzendes Verhalten behandelt. Falls Du Bedarf zum Reden hast, wende Dich an eine Person, der du vertraust oder an die Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111“. - Das ist keine einfache Ausgangssituation für die Jury Bildung beim Deutschen Menschenrechts-Filmpreis, denn sie schaut nicht nur auf die künstlerische und menschenrechtliche Qualität eines Films, sondern auch auf die pädagogische.
Eins ist klar: Alle Jurymitglieder waren sehr beeindruckt von Sejad Ademajs Werk, das in seiner Kürze Unfassbare fassbar macht; dessen Figuren so nahbar sind; und dessen menschenrechtspolitische Anklage unter die Haut geht. Und doch entspannte sich eine intensive Diskussion unter den Mitgliedern der Jury: Ist ein Film, der gleich zwei „harte“ Themen, Abschiebung und selbstverletzendes Verhalten behandelt, überhaupt für die Bildungsarbeit geeignet?!
Die Frage wirft einen komplexen Horizont auf. Ein einfaches „Ja“ oder „Nein“ würde diesem sicher nicht gerecht. Für die Kinder- und Menschenrechtsbildung sind solche Fragen spannend und bedeutsam, deswegen nimmt diese Laudatio sie ernst – dazu später mehr. Doch nun zum brillanten Film von Autor und Regisseur Sejad Ademaj, der all diese fruchtbaren Diskussionen stimuliert.
Der Film steigt ein mit einer ganz normalen Familienszene, wie sie fast alle kennen. Mutter und Tochter im Bad. „Privatsphäre!“ – fordert die Tochter Jasmina lautstark ein. Die Mutter setzt sich zu ihr auf den Wannenrand. Die beiden haben ein vertrautes Gespräch über die geplante Klassenfahrt nach Berlin. Jasmina ist frustriert. Zurecht, denn die Familie Salihovic hat keinen sicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland. Sie sind „geduldet“, d.h. sie haben keinen Zugang zu allen Menschen- und Kinderrechten; sie sind eingeschränkt in ihrer Freiheit. Gleichheitsrechte, Teilhaberechte, Bildungsrechte werden ihnen versagt. „Ich muss mit meiner Mutter zum Amt wegen Berlin“, sagt Jasmina am Telefon, „ich muss doch immer wegen allem fragen.“ „Fuck“, antwortet ihr Freund Lukas, „das ist so falsch!“ Und wir als Zuschauer*innen erfahren das ganze Ausmaß dieses Falschseins in den nächsten Minuten. Drei Polizeibeamt*innen dringen in ihre Wohnung ein, und setzen den Deportationsbescheid. Es bleiben nur fünfzehn Minuten, um die wichtigsten Dinge mitzunehmen . In ihrer aussichtslosen Verzweiflung schließt sich Jasmina ins Bad ein. Ihr Blick fällt auf das Rasierzeug ihres Vaters…
Was Sejad Ademaj in seinem Film eindrücklich und authentisch behandelt ist für viele Kinder, Jugendliche und ihre Familien in Deutschland bittere Realität. Doch zu wenige Menschen wissen davon. Er sagt selbst dazu: „Ich gehöre der Minderheit der Rom*nja an und habe den Film aus biografischen Gründen gemacht, aber auch aufgrund der Erfahrungen anderer. (…) Die ständige Möglichkeit, als Rom*nja abgeschoben zu werden, nimmt vielen Menschen die Möglichkeit, sich zu integrieren, hier zu arbeiten und Teil der Gesellschaft zu werden.“ Genauso ist das Thema Suizid für viele Jugendliche in Deutschland von Bedeutung, denn gerade in der Gruppen der 15- bis unter 25-Jährigen ist Suizid nach wie vor eine der häufigsten Todesursachen.
Beide Thematiken, Suizid und Abschiebung/Deportation zu verbinden, und die Zuschauer*innen damit zu alarmieren, das ist die große Leistung dieses Films. Er hat das Potenzial unser Menschenrechtsbewusstsein wach zu halten; und dies gerade in einer Zeit, in der Politiker*innen in Deutschland, der Europäischen Union und weltweit sich gegenseitig überbieten mit immer wahnwitzigeren Ideen zur Beschränkung von Migration und zur Deportation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Um es mit der Stimme der Protagonistin im Film, Samira, zu sagen: „Sie können mich nicht einfach abschieben: Ich bin hier geboren.“
An dieser Stelle, wie angekündigt, nochmal zurück zur Filmbildung und zur Menschenrechtsbildung. Es ist lohnend, relevant und menschenrechtspolitisch geboten, sich auch schwierigen, scheinbar aussichtslosen Themen wie Abschiebung und Suizid pädagogisch zu widmen. Es ist eine gleichzeitig eine Herausforderung und voraussetzungsvoll, dies zu tun: Menschenrechtsfilmbildung für Fortgeschrittene im besten Sinne!
Sejad Ademaj studierte erst Drehbuch und seit 2022 Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg. Als Sohn einer montenegrinischen Roma-Familie lebte er von 1991 bis 2008 mit einem Duldungsstatus in Deutschland. Diese Zeit war geprägt von ständiger Unsicherheit und der Bedrohung, abgeschoben zu werden. Nach dem Abitur machte Sejad eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann und studierte im Anschluss „Mediengestaltung und -produktion“ an der HS Offenburg, was er 2020 erfolgreich mit einem Bachelor abschloss. Im Wintersemester 2020 nahm Sejad ein Drehbuchstudium an der Filmakademie Baden-Württemberg auf. Aufgrund des großen Erfolges seines Zweitjahresfilms „Fünfzehn Minuten“, der 2022 Premiere auf den Hofer Filmtagen feierte und mehrere Kurzfilmpreise gewann, wurde ihm ein Wechsel zum Fach Szenische Regie angeboten. Sein neuer Film "Deutsche Sprache schwere Sprache" feierte 2023 ebenfalls auf den Hofer Filmtagen Premiere.
Sejad Ademaj © Joshua Neubert