Preisträger*innen 2022

»A Black Jesus«

von Luca Lucchesi, Dokumentarfilm, 2020, 92 Minuten

aus "A Black Jesus" © ph.Dodo Veneziano

Synopsis

In dem sizilianischen Städtchen Siculiana finden sich die Menschen seit langer Zeit Anfang Mai zu einer großen Prozession zusammen, bei der ein Kruzifix mit einer schwarzen Jesusfigur durch die Straßen getragen wird. Als ein 19-jähriger Flüchtling aus Ghana als Kreuzträger daran teilnehmen will, geraten die Gemüter in Wallung. Mit großem Gespür für Stimmen und Stimmungen fängt der Dokumentarfilm die Gemengelage ein und formt daraus ein offenes Werk, das zum Weiterdenken animiert und die vielfältigen Widersprüche der Gegenwart in schmerzhafte Zeitbilder gießt. (Filmdienst)

Jurybegründung

Die Kamera lässt sich Zeit, uns mit dem Ort vertraut zu machen. Sie nähert sich von oben, gleitet über das Meer, durch die labyrinthischen Gassen des sizilianischen Dorfes Siculiana. Wir finden uns in einer Kirche wieder. Am Kreuz hängt ein schwarzer Jesus. Männer und Frauen küssen seine Füße. Seit Jahrzehnten wird alljährlich am 3. Mai diese besondere Jesusfigur während einer Prozession von auserwählten Männern durch den Ort getragen. Staunend verfolgen geflüchtete Männer aus Afrika das Geschehen. „Sie lieben ein schwarzes Stück Holz, aber sie lieben keine schwarzen Menschen aus Fleisch und Blut“, sagt einer von ihnen. 
In seinem rein beobachtenden Dokumentarfilm versucht Luca Lucchesi, die vorgefundene Wirklichkeit in all ihren widersprüchlichen Facetten einzufangen. Man spürt, dass er mit der Gegend und ihren Bewohner*Innen vertraut ist, sein Vater wuchs hier auf. 

Lucchesis offener, vorurteilsfreier Blick findet sich in seinen Cinemascope-Bildern wieder. Er hört zu und schaut hin, die Fragen müssen wir selbst beantworten: Warum spielen weiße und schwarze Männer getrennt Fußball? Warum haben einige der betagten Einwohnerinnen des Dorfes Angst vor den Geflüchteten? Warum können Menschen, die sich als Christen bezeichnen, sich nicht mit Fremden in Not solidarisch erklären? 
Mit den Geflüchteten drücken wir die Schulbank. Sie lernen italienisch. Sie möchten sich eine Zukunft aufbauen, wollen teilhaben. Lucchesi genügt ein Kameraschwenk über nicht genutzte Äcker und zerfallene Bauernhöfe, um zu zeigen, dass es genug für sie zu tun gäbe. Die vorgefundenen Situationen und wie beiläufig eingefangenen Gespräche verdichten sich zu einem Zeit- und Gesellschaftsbild, das weit über den Ort hinausreicht. 
Doch Lucchesis Film belässt es nicht bei einer reinen Zustandsbeschreibung. Der 19-jährige Edward aus Ghana hat eine gewagte Idee: Er bittet den Priester, sich und zwei seiner Freunde bei der nächsten Prozession als Träger eizusetzen. 
„A Black Jesus“ ist ein Film, der seine ganz eigene Politik betreibt, indem er Visionen aufwirft, die zeigen, dass ein Miteinander möglich ist, dass die Welt eine andere sein könnte. 

Biografie

Luca Lucchesi schloss ein Studium der Rechtswissenschaften in Palermo ab. Seit 2009 unterstützt er Wim Wenders bei mehreren Projekten als erster AD, Editor und DOP. Mit Hella Wenders arbeitete er an den Dokumentarfilmen "Berg Fidel – Eine Schule für alle" und "Schule, Schule – Die Zeit nach Berg Fidel" zusammen, die beide auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis gezeigt wurden. "A Black Jesus" ist sein erster Langfilm als Regisseur.

Quelle: Filmfestival Max Ophüls Preis 2021

Weitere Informationen zum Filmemacher

Statement des Filmemachers

Interview mit Luca Lucchesi an der Preisverleihung 2022

»Der lange Weg der Sinti und Roma«

von Adrian Oeser, Dokumentation, 2022, 45 Minuten

aus "Der lange Weg der Sinti und Roma" © Adrian Oeser

Synopsis

Jùlie Halilić ist stolz, wenn sie an ihren Großvater denkt. Wallani Georg erkämpfte gemeinsam mit anderen Bürgerrechtlern, dass der Massenmord an den Sinti und Roma 1982 als Völkermord anerkannt wird. Begonnen hatte es mit einer Besetzung der KZ-Gedenkstätte Dachau. Elf Sinti traten dort 1980 in den Hungerstreik, weil die Verfolgung für Angehörige ihrer Minderheit mit der Befreiung nicht endete, weil der Rassismus gegen Sinti und Roma ungebrochen fortbestand. Sie texteten ein beliebtes Wanderlied um, um darauf aufmerksam zu machen: „Lustig ist das Zigeunerleben, Faria, Faria ho – Staat braucht uns keine Rechte (zu) geben, Faria, Faria ho“. Die Aktion in Dachau markierte den Beginn der Bürgerrechtsbewegung, eines langen Weges der Emanzipation. Die Auschwitz- Überlebende Zilli Schmidt kämpfte viele Jahre um Anerkennung ihrer Verfolgung aus rassischen Gründen. Die Musiker Manolito Steinbach und Romani Weiß wuchsen in den 1970er Jahren in West- Berlin auf. Sie erzählen davon, wie sie lange Zeit lieber unsichtbar bleiben wollten, wie diese Vorsicht erst nach und nach einem neuen Selbstbewusstsein wich. Gianni Jovanovic erlebte, dass die Verfolgung auch mit der Anerkennung des Völkermords nicht endete. Nachdem er 1982 einen Bombenanschlag in Darmstadt überlebt hatte, wurde wenig später das Haus seiner Verwandten in einer Nacht- und Nebelaktion von der Stadt abgerissen. Mit diesen persönlichen Lebenswegen zeichnet der Film emotional und eindrucksvoll die Geschichte von Deutschlands größter nationaler Minderheit nach und macht Perspektiven und Erzählungen sichtbar. Individuelle Geschichten und bisher kaum gezeigtes Archivmaterial nehmen mit in eine Zeit, in der Sinti und Roma weiter diskriminiert wurden und in der sie sich schließlich zur Wehr setzten. Unter den historischen Aufnahmen aus den ARD-Archiven fand Filmautor Adrian Oeser viele Szenen, die deutlich machen, wie stark der Rassismus gegen Sinti und Roma nach 1945 fortdauerte – und auch im öffentlich- rechtlichen Rundfunk immer wieder befeuert wurde. Die Dokumentation „Der lange Weg der Sinti und Roma“ ist damit auch eine kritische Auseinandersetzung der ARD mit ihrer eigenen Geschichte. Der Film zeigt darüber hinaus, dass eine Aufarbeitung in vielen gesellschaftlichen Bereichen bis heute notwendig ist. Bis in die 1980er Jahre arbeiteten Landeskriminalämter und Forscher in ganz Deutschland mit den Akten der Rassenhygieniker aus der Nazizeit weiter, um Sinti und Roma systematisch zu erfassen. Erst die Bürgerrechtler konnten diese Aktenbestände in den 1980er Jahren freipressen. Beeindruckendes Archivmaterial zeigt, wie sie die Dokumente ihrer Verfolgung fast vierzig Jahre nach der Befreiung erstmals in den Händen halten. Zu realisieren, dass die systematische Stigmatisierung so lange andauerte, belastet den Bürgerrechtler Rudko Kawczynski bis heute. „Der lange Weg der Sinti und Roma“ ist ein Film über Geschichte, die nicht abgeschlossen ist, über eine Zeit, die bis heute fortwirkt. Ein Film übers Gestern fürs Heute. 

Jurybegründung

„Lustig ist das Zigeunerleben, faria, faria ho! Staat muss keine Entschädigung geben, faria, faria, ho. In Auschwitz war duschen gar lustig und fein……“. Dieses von der Bürgerrechtsbewegung umgedichtete Volkslied fungiert als roter Faden des Films, der die systematische Ausgrenzung, Diskriminierung und Entrechtung der Sinti und Roma zeigt, die nicht mit dem Ende der Naziherrschaft endet, sondern bis die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts reicht und auch noch heute Vorurteile nährt. 

Die Stärke dieses Films ist, dass er unterschiedlichen Generationen von Sinti und Roma das Wort gibt, um die menschenverachtenden Praktiken von Justiz und Mehrheitsgesellschaft vor und insbesondere nach 1945 eindringlich darzustellen. 
Die am 21. Oktober 2022 verstorbene Zilli Schmidt beschreibt das Leben mit ihrer Tochter im Vernichtungslager Auschwitz. Der Bürgerrechtler Rudko Kawczynski berichtet von ständigen Polizeikontrollen, Razzien und anderen Schikanen in den 70ern, denen er und seine Familie ausgesetzt waren. Die Familie des Musikers Romani Weiss tat in den 60ern alles, um nicht aufzufallen. Der Kölner Unternehmer Gianni Jovanovic erlebte, dass noch in den 80ern - nachdem die damalige Bundesregierung den Massenmord der  Nationalsozialisten als Völkermord anerkannt hatte – ein Anschlag auf das Wohnhaus seiner Familie verübt wurde.

Der Film ordnet die Aussagen der Protagonist*innen ein, ergänzt sie durch Expert*innen und Archivmaterial und liefert so ein kompaktes und zugleich erschütterndes Bild der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, deren Justiz unter Verwendung von NS-Aufzeichnungen, die systematische Stigmatisierung weiterführt, deren Bürger*innen und Politiker*innen Gewalt gegen Sinti und Roma und deren Eigentum nicht nur nicht verurteilen, sondern im Gegenteil gutheißen und deren Medien die Vorurteile übernehmen. 

Der Film – so die Meinung der Jury – erhält durch den Freiraum, den er den Protagonist*innen gibt, eine emotionale Kraft, die berührt. Es ist ein wahrhafter und authentischer Film, der nicht über Sinti und Roma spricht, sondern mit ihnen. Er thematisiert eine immer noch offene Wunde in der deutschen Gesellschaft, über die viel zu wenig gesprochen wird.

Informationen zum Filmemacher und sein Statement

Interview mit Adrian Oeser an der Preisverleihung 2022

»MONITOR - Europas Schattenarmee: Pushbacks an der kroatisch-bosnischen Grenze«

von S. Laghai, N. Vögele, K. van Dijken, J. Saproch, S. Govedarica, A. Beer, J. Bakotin, P. Simeonidis, B. Deeb, S. Lüdke, E. van Driel, A. Popoviciu, L. Šabić, D. Derifa, G. Restle, Beitrag Politikmagazin, 2021, 14 Minuten

aus "MONITOR - Europas Schattenarmee: Pushbacks an der kroatisch-bosnischen Grenze", ©Shafagh Laghai, Nicole Vögele, Klaas van Dijken, Jack Saproch, Srdjan Govedarica, Andrea Beer, Jerko Bakotin, Phevos Simeonidis, Bashar Deeb, Steffen Lüdke, Els van Driel, Andrei Popoviciu, Lamia Šabić, Danka Derifa

Synopsis

Filmaufnahmen eines europäischen Rechercheverbundes, an dem neben MONITOR „Lighthouse Reports“, SRF Fernsehen, ARD Radio Wien, Der Spiegel, Pointer, Novosti und RTL Kroatien beteiligt waren, belegen schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen durch maskierte Uniformierte an der kroatischen Grenze zu Bosnien. Die Bilder zeigen unter anderem, wie Flüchtende mit Schlagstöcken über die Grenze aus der EU hinausgeprügelt werden, so dass sie in Kroatien keinen Asylantrag stellen können. Weitere Aufnahmen belegen, dass Flüchtende von Kleintransportern aufgegriffen und illegal über die Grenze zurück nach Bosnien gebracht werden. Bei den Maskierten handelt es sich nach den Recherchen um Mitarbeiter der kroatischen Polizei. Berichte über illegale Zurückweisungen, so genannte Pushbacks, an der kroatisch-bosnischen Grenze gibt es schon seit Jahren. Bislang haben kroatische Behörden allerdings bestritten, dass sie von staatlichen Polizeibeamten durchgeführt werden. Die gemeinsamen Recherchen des Rechercheverbundes zeigen nun, dass die illegalen Zurückweisungen systematisch und staatlich organisiert sind und auch gewaltsam erfolgen. Allein zwischen Mai und September 2021 filmte das Rechercheteam elf solcher illegalen Pushbacks an fünf verschiedenen Orten an der kroatisch-bosnischen Grenze. Insgesamt sind 38 Polizisten zu sehen und 148 Menschen, die zum Teil unter Einsatz erheblicher Gewalt über die grüne Grenze zurückgetrieben werden. Anhand der Uniformen und der Ausrüstung lassen sich die Männer als Mitglieder der kroatischen Interventionspolizei identifizieren, die dem Innenministerium untersteht. Sechs kroatische Beamte bestätigten nach Durchsicht der Bilder, dass es sich um die kroatische Interventionspolizei handele. Weitere Beamte, darunter ein Mitglied der Interventionspolizei, berichteten anonym von den Pushbacks. Intern werde die Operation demnach „Korridor“ genannt. Die EU und auch Deutschland unterstützen Kroatien seit Jahren bei der Grenzsicherung mit Geld und Ausrüstung.

Eine Recherche von Shafagh Laghai, Nicole Vögele, Klaas van Dijken, Jack Saproch, Srdjan Govedarica, Andrea Beer, Jerko Bakotin, Phevos Simeonidis, Bashar Deeb, Steffen Lüdke, Els van Driel, Andrei Popoviciu, Lamia Šabić, Danka Derifa

Redaktionsleitung: Georg Restle

Jurybegründung

Das Thema Flucht ist fast grausamer Alltag geworden in der Fernsehberichterstattung: Menschen kentern und ertrinken im Mittelmeer, vegetieren in unmenschlichen Lagern auf griechischen Inseln oder bleiben an spanischen Grenzzäunen hängen. Es droht ein Abstumpfungseffekt bei manchen Zuschauern, die es nicht mehr ertragen, aber auch bei einigen Programmentscheidern, die es uns vielleicht nicht mehr zumuten wollen.

Und doch, es gibt Filmbeiträge, die es schaffen, uns wieder wachzurütteln und zu empören: durch packende Bilder, kluge Dramaturgie und tiefgründige Recherche. All´ das zeichnet den Beitrag „Europas Schattenarmee: Pushbacks an der kroatischen-bosnischen Grenze“ aus.

Die WDR-Redaktion MONITOR hat diesem 14-minütigen Beitrag fast die Hälfte ihrer auf 30 Minuten zusammengestutzten, kostbaren Sendezeit eingeräumt. 14 Minuten, die es in sich haben: Heimlich gedrehte Aufnahmen zeigen, wie Flüchtende mit Schlagstöcken aus der EU hinausgeprügelt werden, damit sie in Kroatien keinen Asylantrag stellen können. Illegale Zurückweisungen, sogenannte Pushbacks, gewaltsam und staatlich organisiert, wie der investigative Beitrag nachweist. Also systematische Menschenrechtsverletzungen an der kroatischen Grenze zu Bosnien. Behördenintern bürokratisch kalt als „Operation Korridor“ bezeichnet.

Das bei vielen als Urlaubsland beliebte Kroatien wird dabei seit Jahren von der EU und auch Deutschland mit Geld und Ausrüstung für ihre Grenzsicherung unterstützt.

Diese aufwändige und herausragende journalistische Recherche wurde, und konnte vielleicht nur, durch einen europäischen Rechercheverbund gestemmt werden, an dem neben MONITOR „Lighthouse Reports“, SRF Fernsehen, ARD Radio Wien, Der SPIEGEL, Pointier, Novosti und RTL Kroatien beteiligt waren. Sie alle sind dem gerecht geworden, was unser Bundesverfassungsgericht einmal als Kritik- und Kontrollfunktion der Massenmedien in einer demokratischen Gesellschaft definiert hat.

Dafür dankt die Jury den Macher*innen und verleiht den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis 2022 in der Kategorie Magazin an: Shafagh Laghai, Nicole Vögele, Klaas van Dijken, Jack Saproch, Srdjan Govedarica, Andrea Beer, Jerko Bakotin, Phevos Simeonidis, Bashar Deeb, Steffen Lüdke, Els van Driel, Andrei Popoviciu, Lamia Šabić, Danka Derifa, Redaktionsleitung: Georg Restle.

Weiterführende Informationen

»Geamăna«

von Matthäus Wörle, Dokumentarfilm, 2021, 30 Minuten

aus "Geamăna", © Matthäus Wörle 

Synopsis

Vor langer Zeit war Geamăna ein rumänisches Dorf im Apuseni-Gebirge, welches etwa 1000 Menschen beheimatete. Heute ragt lediglich die Kirchturmspitze aus dem giftigen Schlamm eines benachbarten Kupferbergwerks. Fast alle Häuser sind versunken und ihre Bewohner geflohen. Nur wenige Menschen hielten an der Heimat fest. Am Rande der Vergangenheit bestreitet Valeria Praţa ihre Gegenwart – und wird von der Zukunft bedroht. 

Jurybegründung

Bilder eines Dorflebens irgendwo in Rumänien: Eine Frau melkt ihre Kuh, macht Quark, streichelt liebevoll ihren Hund, hängt die Wäsche in ihrem großen Garten auf, ihre Hände zeugen von harter Arbeit. Der Film „Geamăna“ nimmt uns mit in das Leben dieser Frau, sie heißt Valeria Prata. Und ihr Leben ist ein sehr einfaches, aber auch – so scheint es – ein schönes, in dem die Hoftiere und die Natur den Takt vorgeben. Valeria liebt es so, wie es ist. Doch sie wird diesen Alltag in der vertrauten Umgebung nicht mehr lange um sich haben können. Schritt für Schritt offenbart sich im Film der Grund dafür. Die Dorfbewohner*innen haben schon längst die Gegend verlassen, verlassen müssen. Valeria wird ihnen folgen, denn eines Tages wird auch ihr Haus unter Wasser stehen, so wie alle anderen Häuser. Grund ist der Abraum eines Bergwerks, der in ein Tal geleitet wird, wo sich das Dorf Geamăna befand. Wie eine giftige Decke legt sich der Schlamm über das Tal und hinterlässt ein Ödland, aus dem nur noch die Spitze des Kirchturms wie ein Mahnmal heraussticht.

Der Film schafft authentische Bilder und lässt uns ganz nah bei Valeria, ihrem Alltag sowie ihren Gedanken sein. Mit viel Ruhe, Unaufgeregtheit und fesselnder Bild-Ästhetik transportiert die Doku die Schönheit Valerias bescheidenen Daseins. Sie liefert gleichzeitig den für Valeria tragischen Kontext dazu. Der Verlust an Gemeinschaft im Leben der älteren Frau wird sehr deutlich, so auch die tiefe Traurigkeit, die in Valerias Aussagen mitschwingt, wenn es darum geht, was aus ihrem Dorf geworden ist und was sie erwartet. Im selben Maß, wie Valerias Erinnerungen verblassen, verschwinden auch die Identität und die Historie ihrer Heimat.

Die Jury hat dem Dokumentarfilm „Geamăna“ den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis des Jahres 2022 in der Kategorie Hochschule zuerkannt, weil er sensibel und handwerklich gut umgesetzt ein Thema behandelt, das nur auf den ersten Blick etwas speziell erscheint. Es gab, gibt und wird noch viele solche Menschen und Kulturen wie Valeria und ihre Dorfgemeinschaft auf der Welt geben. Umweltverschmutzung, Klimaveränderung lassen vielen Menschen keine andere Wahl als ihr Zuhause zu verlassen. Wenn die Weltgemeinschaft nicht handelt, wird ihre Zahl enorm steigen. Und noch eine Tatsache vermittelt der Film in den Zeiten, in denen Millionen Menschen auf der Flucht sind, eindringlich: Kein Mensch verlässt seine Heimat leichtfertig.

Statements des Preisträgers

Biografie

Matthäus Wörle wurde im Jahr 1991 in Weilheim in Oberbayern geboren. Er absolvierte nach dem Abitur ein Journalistik-Studium an der Universität Eichstätt-Ingolstadt. Anschließend durchlief er ein Videojournalismus-Stipendium des Mediencampus Bayern. Er arbeitete unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, den Bayerischen Rundfunk und die nautilusfilm GmbH. Mittlerweile ist er als freier Videojournalist tätig und studiert Dokumentarfilmregie an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Seine Kurzfilme wurden auf zahlreichen nationalen sowie internationalen Filmfestivals gezeigt und prämiert.

Interview mit Matthäus Wörle an der Preisverleihung 2022

»Ich wünsche mir...«

von Anna Broghammer, Marie Freynik, Felix Günter und David Moosmann mit Unterstützung von Kerstin Heinlein (AG Leiterin), Stop-Motion-Animation, 2022, 5 Minuten

"Ich wünsche mir"...", © Kerstin Heinlein

Synopsis

Ein Mädchen sitzt an ihrem Tisch vor dem Fenster und schreibt in ihr Tagebuch. Sie schreibt von ihrem Wunsch, fliegen zu können und träumt sich mit den Blättern hoch in den Himmel. Bald schon wird aus dem Sommerwind ein Sturm und aus dem Traum ein Albtraum.

Jurybegründung

Der Traum vom Fliegen, wer hat ihn nicht schon einmal geträumt. Ein Mädchen sitzt am Fenster und schreibt in ihr Tagebuch. Ihre Wünsche nehmen Gestalt an. Wie ein Herbstblatt fliegt es durch die Lüfte. Das Mädchen ist eine Animationsfigur in der Stop-Motion-Animation „ICH WÜNSCHE MIR…“. Wir erleben es in einer lichten Szenerie mit leuchtenden Farben. Doch der Traum vom Fliegen schlägt um in einen Albtraum. Ein umherfliegendes Blatt warnt: „Manchmal gibt es einen Sturm und man wird weggeweht.“ Experimentelle Bilder von Explosionen, Chaos und Zerstörung zeigen, wohin dieser Wind weht. Die Stimmung wechselt und unsere Protagonistin findet sich in einem dunklen Schutzkeller wieder. Um sie herum Gefahr und Bedrohung. Kampf und Zerstörung überschatten alle Sehnsucht und alle Träume, bis nur noch ein Wunsch bleibt: Der Krieg möge enden und die Welt wieder so sein, wie davor.

In ihrem Trickfilm ICH WÜNSCHE MIR erschafft die Medienwerkstatt der Grundschule Tennenborn eine puppenstubenhafte Erzählwelt mit großer metaphorischer Kraft. Der Film beschwört eine Fantasie, die mit eindringlich sprechenden Szenerien und Einstellungen aufwartet und zudem von einer wunderbaren Erzählerin getragen wird. Die intensive Farbgestaltung des Films trägt uns von schwebenden Träumen zum angstvollen Ausharren im Keller in einem Zustand von Bedrohung und Bedrückung. Sofort denken wir an die Menschen, die Krieg erleiden und sich ein anderes Leben wünschen. Doch dieses Leben ist so fern wie der freie Himmel und wie das Schweben eines Blattes im Wind. 

Hintergründe zum Film

Der Ukrainekrieg ist ein Thema, mit dem sich auch schon Kinder auseinandersetzen. Sie nehmen die Nachrichten in den Medien wahr, reagieren sensibel, tief, emphatisch. In der Schule wurde es immer wieder thematisiert und intensiv darüber besprochen. Vor diesem Hintergrund ist der StopMotion Film entstanden. Es stellt die Sichtweise eines gleichaltrigen Mädchens dar, dessen Welt innerhalb kürzester Zeit nicht mehr war wie vorher. Die Fröhlichkeit wich der Angst und aus den Tagträumen wurden durch den Krieg Albträume. Der Film hat kein gutes Ende, wie es für Grundschüler typisch sein mag, sondern wirft die Frage nach der Situation der Kinder auf und damit auch nach deren Menschenrechte.
Die Filmcrew bestand aus vier SchülerInnen der Klasse 4, also im Alter zwischen 10 bis 11 Jahren. Medienpädagogisch wurde das Projekt von Kerstin Heinlein begleitet und technisch unterstützt, die seit 2015 an der Grundschule die Medienwerkstatt AG anbietet und 2017 mit dem Sonderpreis für Jugendbegleiter.Kultur.Schule. durch das Kultusministerium Baden-Württemberg für das besonders kreative medienpädagogische Konzept ausgezeichnet wurde. Immer wieder werden aktuelle Themen wie die Klimakrise und mit diesem Film auch das schwer lastende Thema des Ukrainekriegs mittels des Mediums Film umgesetzt. Die Kinder lernen dabei über das Medium Film Stellung zu beziehen und sich auszudrücken, neben den technischen Fertigkeiten und kreativen Herangehensweisen. 
"Ich wünsche mir..." beleuchtet die Situation der Kinder im Ukrainekrieg in einem kurzen szenischen Film.

Film auf YouTube ansehen

Interview mit Anna Broghammer und Marie Freynik an der Preisverleihung 2022

»Hayat springt«

von Miriam Goeze, Sozialdrama, 2021, 13 Minuten

aus "Hayat springt", ©Miriam Goeze

Synopsis

Die neunjährige Hayat lebt mit ihrem Vater in einer Geflüchtetenunterkunft. Sie liebt es, Spaß mit ihren Freund:innen zu haben – und ist genervt von ihrem Vater, der immer seine Ruhe haben will. Die Geschichte eines Sommertages, in der sich Hayat mehr traut, als sich nur heimlich durchs Fenster zu schleichen.

Jurybegründung

Der Kurzfilm von Miriam Goeze steigt ein mit einer Situation, die viele geflüchtete Kinder kennen: Die neunjährige Hayat übersetzt für ihren Vater in der Behörde. Während das Mädchen die deutsche Sprache bereits gut sprechen und verstehen kann, möchte der Vater seine Deutschkenntnisse gerne verbessern; er möchte lernen. Jedoch ist das einzige Angebot für einen Sprachkurs 40 km entfernt und allein der Bus dorthin kostet knapp 150 €. „Wie können wir das bezahlen?“, fragt Hayat. „Es tut mir leid, aber das ist das Einzige, was ich Euch momentan anbieten kann“ – so die Sozialarbeiterin, die beide selbstverständlich duzt. 

Hayat lebt mit ihrem Vater in einer typischen Unterkunft für Geflüchtete, wie sie in jeder deutschen Stadt stehen könnte: Die Wohnverhältnisse sind einfach und beengt, die Gebäude sind heruntergekommen, Sicherheitspersonal und provisorische Zäune weisen darauf hin, dass es hier Schutz braucht. Doch wer vor wem geschützt werden muss, das bleibt unklar. Es ist langweilig. Die Erwachsenen bleiben stumm, sind traurig oder starren auf ihre Handys, und die Kinder sind sich selbst überlassen. 

Wenigstens kann man an den Zäunen richtig schön Krach machen. Hayat und ihre zwei Freund:innen schrabbeln mit Stöcken gegen das Metall und amüsieren sich köstlich, weshalb sie auch nach den mahnenden Worten des Sicherheitspersonals einfach weiter machen. Als sie in einer Tasche mit gespendeter Kleidung zwanzig Euro finden, sind sich die Drei sofort einig: Das ist das Startkapital für ein kleines Abenteuer! Sie schlüpfen heimlich durch eine Lücke im Zaun und decken sich im nächsten Supermarkt mit Süßigkeiten ein. Dabei landet nicht alles in den Mägen: Es blubbert so schön, wenn man das Brausepulver in den Softdrink kippt …

Fast jedes Kind kann sich mit dieser Art von Spiel und Spaß identifizieren. Miriam Goeze fängt Situationen ein, die alle kennen, und doch lässt ihr Film viele Fragen offen: Warum spricht Hayat so gut Deutsch, aber ihr Vater nicht? Warum ist der Vater so traurig? Woher kommen die Beiden, und warum leben sie bewacht und so beengt in dieser heruntergekommenen Unterkunft? Wie sieht wohl ihre Zukunft aus? Anhand dieser Fragen lassen sich nicht nur aktuelle asyl- und integrationspolitische Themen erklären, sondern auch Kinder- und Menschenrechte wie beispielsweise das Menschenrecht auf Bildung oder das Kinderrecht auf Spiel. 

Es sind gerade die offenen, aber auch gegensätzlichen Bilder, die die Jury überzeugt haben: das ungezwungene Spiel der Kinder und die traurige Stummheit der Erwachsenen, die Tristesse der Unterkunft und die im wahrsten Sinne des Wortes überschäumende Freude am Leben. Sie bieten Anlässe, Flucht- und Migrationsgeschichten sowie ihre Hintergründe zu erzählen, und damit Kindern den Raum zu geben, Fragen zu stellen, die in den meisten Schulen heute ihre Relevanz haben. Gleichzeitig zeigt der Film universale Bilder von Kindheit, Kindern und ihrer Sehnsucht nach Familie, Freundschaft und einem ganz „normalen“ Leben. 

Biografie und Filmografie der Regisseurin

Biografie der Regisseurin 
Miriam Goeze ist in Demmin, Mecklenburg-Vorpommern, aufgewachsen. Nach ihrem Studium der Sozialen Arbeit war sie als Sozialpädagogin in Berlin tätig. Seit 2017 studiert sie Spielfilmregie an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Miriams aktueller Kurzfilm „Hayat springt“ feierte seine Premiere auf den 55. Internationalen Hofer Filmtagen und läuft seitdem auf zahlreichen internationalen Filmfestivals. Ein wiederkehrendes Thema in den Arbeiten der Regisseurin ist die soziale Ungerechtigkeit. 

Filmografie der Regisseurin
2022 Waschlappen | 20 min | Regie, Drehbuch, Schnitt (Postproduktion)
2022 Wunde | 5 min | Regie, Drehbuch, Schnitt
2021 Hayat springt | 13 min | Regie, Drehbuch, Schnitt 
2019 Malaya | 11 min | Regie, Drehbuch, Schnitt 
2019 Frau Ida | 13 min | Regie, Drehbuch, Schnitt
2018 TeaTime | 5 min | Regie, Drehbuch, Schnitt
2017 Ludwig Lebenslust | 10 min | Regie, Kamera, Drehbuch, Schnitt
2017 Der Kartenleger | 10 min | Regie, Drehbuch

Pressematerial

Interview mit Miriam Goeze an der Preisverleihung 2022