Preisträger 2018

»Styx«

von Wolfgang Fischer, Drama, 2018, 94 Minuten

Synopsis

In eine unbekannte, fremde Welt entführt der Spielfilm „Styx“. Die Kölner Notärztin Rike nimmt eine Auszeit von ihrem stressigen Job. Sie reist nach Gibraltar, um sich einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen: ein Segeltörn ganz allein zur tropischen Insel Ascension im Atlantischen Ozean. Doch ihr Urlaub nimmt eine unerwartete Wende, als ihr nach einem Sturm ein schwer beschädigtes und hoffnungslos überfülltes Flüchtlingsboot begegnet. Sie bemüht sich verzweifelt, per Funk Hilfe zu organisieren. Doch die Lage ist aussichtlos. Immer mehr Menschen ertrinken bei dem Versuch, sich von dem sinkenden Schiff auf ihr kleines Boot zu retten. Rike steht vor einer schweren Entscheidung.

Jurybegründung

„Styx“, so erinnert sich vielleicht noch manch´ einer aus dem Schulunterricht, das ist das Wasser des Grauens - der Fluss, der die Lebenden vom Hades, dem Totenreich, trennt. Ein etwas aufgeladener Titel für einen Spielfilm könnte man meinen. Aber das Grauen ist längst unser täglicher Begleiter, und nicht nur in der Tagesschau: Es reicht zum Beispiel ein Urlaub auf einer der wunderschönen Inseln in der griechischen Ost-Ägäis, bei dem es Ihnen passieren kann, dass plötzlich eine Leiche angespült wird.
Oder Sie starten in einen traumhaften Mittelmeer-Segeltörn, der sich schnell in einen Alptraum verwandelt, wenn Sie auf ein kenterndes Boot mit flüchtenden Menschen stoßen. Und schon sind wir mittendrin, im Drama unserer Zeit und im Film des österreichischen Regisseurs Wolfgang Fischer.
In „Styx“ begleiten wir eine Not-Ärztin auf großer Segeltour. Die überragende Susanne Wolff spielt eine zunächst sehr souveräne Frau, die allein segelt, um von ihrem stressigen Beruf abzuschalten. Sie beherrscht alle Handgriffe und Abläufe, weiß genau, was sie tun muss und meistert selbst einen Sturm auf offener See.

Doch dann wird sie plötzlich mit einem überladenen, bald kenternden Flüchtlingsboot konfrontiert. Sie fordert Hilfe an, die jedoch ausbleibt. Ein Junge rettet sich in letzter Not an Bord ihres Segelschiffes, mit seiner ganzen Wut und Verzweiflung, da es für die anderen keine Rettung zu geben scheint. Wie verhält man sich in einer so chaotischen, ausweglosen Situation, wie kann man helfen, wem kann man helfen?
Ihr Pflichtbewusstsein als Ärztin, die zur Hilfe gewissermaßen durch Eid auch verpflichtet ist, kollidiert bald mit ihren begrenzten Möglichkeiten und zerschellt an der unterlassenen Hilfeleistung der europäischen Flüchtlingspolitik.

So wird die packende Geschichte, die geschickt mit den Elementen des Seeabenteuer-Genres spielt, zu einer Metapher für den Zustand unserer gesellschaftlichen Realität. „Styx“ bezieht seine Wucht aus der geradezu archaischen Begrenzung auf einen überschaubaren, erzählerischen Rahmen, in dem die Schärfe des Konflikts umso deutlicher wird - meisterlich unterstützt durch die ausgezeichnete Kamera von Benedict Neuenfels und die erbarmungslose Montage von Monika Willi, die uns kein Entrinnen aus dem Dilemma gestattet.

Die Jury zeichnet erstmals in der Kategorie Langfilm einen Spielfilm mit dem Deutschen Menschenrechtsfilmpreis aus. „Styx“ ist ein herausragendes Beispiel für das, was anspruchsvoller fiktionaler Film leisten kann. Demnächst bitte auch in der Prime-Time, gleich nach der Tagesschau.

Pressematerial

»Joe Boots«

von Florian Baron, Dokumentarfilm, 2017, 30 Minuten

Synopsis

Unter dem Eindruck der Terroranschläge des 11. September entschließt sich Joe, zum Militär zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt ist er 17 Jahre alt und verlässt die High-School mit großen Zukunftsträumen. Als er aus der Grundausbildung zurückkommt, geben ihm seine Freunde den Spitznamen Joe Boots. Schon kurze Zeit später schickt man ihn zum Einsatz in den Irak. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt Pittsburgh muss er feststellen, dass ihn seine Erfahrungen im Krieg nicht mehr loslassen. Joe erzählt ohne Scheu von seinem Trauma: wie er die Kontrolle über sein Leben verliert, und vergeblich nach Hilfe sucht. Denn seine Wunden sind unsichtbar. Der Film verwebt Joes Erzählungen mit Bildern, die die vermeintlich heile Welt Amerikas zeigen.

Jurybegründung

Das Menschenrecht auf den „höchsten erreichbaren Stand an körperlicher und geistiger Gesundheit“ gehört seit 1966 zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten, wie sie von der großen Mehrheit der Staaten in den Vereinten Nationen verabschiedet wurden. Ob sich Florian Baron beim Drehen seines 2017 produzierten Dokumentarfilms „Joe Boots“ dieser sperrigen, aber sehr durchdachten Definition von Gesundheit bewusst war? Die Jury des Deutschen Menschenrechts-Filmpreises für Kurz- und Langfilme hat sich bei ihrer Entscheidung für den Film „Joe Boots“ als besten Kurzfilm von diesem Menschenrecht leiten lassen, gerade weil der Film und sein Protagonist, der US-Irakkriegsveteran Joe Boots, nicht ein Menschenrecht bebildern, sondern sich mit filmischen Mitteln und sprachlicher Reflektion einer zentraler Frage heutiger Debatten nähert: Ist das Menschenrecht auf Gesundheit durch die Verteilung von Pillen verwirklicht und erledigt?

Joe Boots verpflichtete sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York aus Patriotismus für die Armee, wie es viele seiner Familienangehörigen vorher getan hatten. Sie waren einst stolze Arbeiter aus Pittsburgh mit Klassenbewusstsein, das auch Joe Boots noch formuliert. Aber heute gibt es keine Klasse mehr. Die Industrie liegt darnieder. Nur der Einzelne ist den Verhältnissen ausgeliefert. Das erzählt der Film mit den Worten des Kriegsveteranen sehr anschaulich.

Joe Boots kehrt aus dem Irak schwer traumatisiert zurück. Das Trauma äußert sich in Aggression gegen sich selbst und seine Umwelt, in schwerem Alkoholismus und Drogensucht. Für seine Krankheit hat das Gesundheitssystem seit dem Vietnam-Krieg einen Namen: Posttraumatisches Belastungssyndrom und eine Pille. Mehr nicht. Joe Boots weigert sich die Pillen zu nehmen, weil sie ihn noch weiter von seiner Umwelt isolieren, wofür die Kamera von Johannes Waltermann überzeugende Bilder findet. Die Normalität eines Alltags, der die dunkle Seite der Wirklichkeit nicht kennt oder nicht kennen will, kommt in Slow Motion wie abgespalten von der Welt des Protagonisten daher. Viele US-Kriegsveteranen sind an dieser Kluft zerbrochen. Die Selbstmordraten sind ungeheuerlich. Wie sich Joe Boots rettet, macht trotzdem Hoffnung. Seine Fähigkeit zu kritischem Denken und Selbstreflektion trägt den Film und inspiriert zum Weiterdenken.

»Erst integrieren, dann abschieben: Deutschlands absurde Asylpolitik«

Von Naima El Moussaoui und Ralph Hötte, Magazinbeitrag/Politmagazin, 2017, 10 Minuten (MONITOR)

Synopsis

Die deutsche Asylpolitik scheint vielerorts vor allem einem Motto zu folgen: Hauptsache raus! Insbesondere nach Afghanistan wollen Bund und viele Länder verstärkt abschieben, obwohl die Vereinten Nationen dringend vor der sich dramatisch verschlechternden Sicherheitslage warnen. Wer da abgeschoben wird, wird öffentlich kaum diskutiert. Dabei sind viele darunter, die seit Jahren hier leben, Arbeit haben oder eine Ausbildung, und die die deutsche Wirtschaft dringend bräuchte. Eine Reise durch Bayern, wo sich immer mehr Mittelständler über die Abschiebepolitik des Landes empören.

Jurybegründung

Die Jury hat sich für den Magazinbeitrag „Erst integrieren, dann abschieben: Deutschlands absurde Asylpolitik“ entschieden, weil er Informationen und Emotionen gut ausbalanciert und dramaturgisch perfekt komponiert. Die Protagonisten erzählen ihre Geschichten und treiben so die Story voran, ohne je den roten Faden zu verlieren. Die Perspektive ist besonders interessant. Die Absurdität der Asylpolitik wird nämlich nicht aus Sicht der Asylsuchenden, sondern aus Sicht der Deutschen beschrieben. Die Menschen im Film haben offensichtlich den „Wir schaffen das“-Appell angenommen und umgesetzt und dann kommt der Schlag ins Gesicht. Der Beitrag wurde im Februar 2017 gesendet. Die Story ist immer noch brandaktuell und zeigt so, wie schwach die Politik ist und wie wenig sie in so langer Zeit vorangebracht hat. Die Jury hat noch vor der bayerischen Landtagswahl getagt und sich einstimmig für den Beitrag entschieden.

 

»Thinking like a Mountain«

von Alexander Hick, Dokumentarfilm, 2018, 71 Minuten

Synopsis

Der höchste Berg Kolumbiens, die Sierra Nevada Santa Marta, ist ein Ort, wo Krieg und Frieden nebeneinander existieren. Der Filmemacher besucht das Bergvolk der Arhuacos und erzählt deren spannende Geschichte des Widerstands. In Zeiten des Klimawandels und des bedrohlichen Bürgerkriegs ist das friedliche Zusammenleben der Gemeinde bedroht.

Jurybegründung

Schon der Titel "Thinking like a mountain" drückt die starke Naturverbundenheit der Arhuacos aus, die Alexander Hick mit seinem Dokumentarfilm auf behutsame Weise ins Auge fasst. Die indigene Gemeinschaft im Norden Kolumbiens bezieht ihre kulturelle Existenz auf den "Berg" der Sierra Nevada de Santa Marta.

Die Achtung und das Verständnis der Arhuacos für ihre Umgebung ist der Ausgangspunkt - nach und nach entfaltet der Dokumentarfilm seine politischen Dimensionen. Der Lebensraum der Arhuacos ist bedroht durch äußere Einflüsse wie dem Klimawandel und insbesondere durch den bewaffneten Konflikt in Kolumbien. Nichtsdestotrotz wehren sich die Arhuacos seit Jahrzehnten auf friedliche Weise gegen die kulturelle Fremdbestimmung durch die kolumbianische Regierung und bemühen sich, ihre naturbezogene, spirituelle Lebensart zu bewahren.

Alexander Hick gelingt es, Nähe zu den in Zurückgezogenheit lebenden Arhuacos zu gewinnen und so einzigartige Einblicke in das Leben des indigenen Volkes zu schaffen. Mit einer respektvollen und poetischen Herangehensweise zeichnet er ein umfassendes Porträt der spirituellen Naturverbundenheit der Arhuacos. Dank ausgewählter Archivbilder wird Filmgeschichte und Kolonialismus mit der Gegenwart verbunden und das politische Ausmaß kultureller Unterdrückung unterstrichen. "Thinking like a mountain" ist ein vielschichtiger Dokumentarfilm, der sich langsam der Problematik der Menschenrechte nähert und so die Einschränkung der kulturellen Selbstbestimmung des Menschen durch die "eigene" Regierung, Bürgerkrieg und zuletzt den Klimawandel ins Zentrum setzt. Der Regisseur zeigt differenziert und sensibel die Bedrohung einer kulturellen Gruppierung auf, die für viele weitere Gruppen gelten kann.

»Just a normal Girl«

von Vanessa Ugiagbe und Yasemin Markstein, Dokumentarfilm, 2018, 25 Minuten

Synopsis

Vanessa soll als Kind beschnitten und zwangsverheiratet werden. Die Mutter flieht mit Vanessa und ihrem Bruder erst in eine andere Stadt in Nigeria, dann weiter nach Deutschland. Hier will sie nun endlich ein ganz normaler Teenager sein. Nach dem erlebten Leid wird aus Vanessa ein besonders aufgewecktes, fröhliches und mutiges Mädchen.

Jurybegründung

Der Film "Just a normal Girl" besticht durch seinen Kontrast zwischen eindringlich und bildhaft erzählten Interviews und den jugendlich lebensfrohen Aufnahmen des Alltags der Filmemacherin und Protagonistin Vanessa. Die Tragik der Flucht aus Nigeria vor der Zwangsverheiratung und Beschneidung wird durch diese Erzählweise aufgefangen und in den hoffnungsvollen Kontext eines sicheren Lebens in Deutschland gerückt. Der Film schafft es durch die reflektierte Haltung der Protagonistin sich nicht damit aufzuhalten Mitleid zu erwecken, sondern bestärkt auf kraftvolle Weise sich für die eigenen Rechte einzusetzen und gegen Widerstände anzugehen.

Der für die Tochter lebenswichtige Zusammenhalt mit ihrer Familie und der kämpferische Wille der Mutter ihre Tochter vor den Traditionen ihrer Familie zu beschützen, zeigt einen wichtigen Schritt für die Zukunft: Mütter die ihren Töchtern eine bessere Zukunft wünschen und gönnen, anstatt sie ihr eigenes Schicksal wiederholen zu lassen. Die Aussöhnung mit der Vergangenheit in der sich die Protagonistin bei ihrer Vergangenheit bedankt, da sie ihr eine bessere Zukunft gebracht hat, zeigt einen heilsamen Prozess. Der Film ermutigt trotz schwieriger Umstände, einen Ausweg zu suchen und bekommt dafür den Menschenrechtspreis in der Kategorie Amateure.

»Der Tatortreiniger – Sind Sie sicher?«

von Arne Feldhusen und Mizzi Meyer, Serie & Unterhaltung, 2016, 30 Minuten

Synopsis

Der Tatortreiniger muss sein ganzes Können unter Beweis stellen ... Tatortreiniger Heiko Schotte ist beeindruckt: alle sind so nett in dieser Unternehmensberatungsfirma. Nur – was soll die eingebaute Uhr auf der Toilette? Schotty gerät mit Geschäftsführer Grimmehein aneinander, der ein geradezu teuflisches Vergnügen daran findet, seine Mitarbeiter an ihre Belastungsgrenze zu treiben. Schotty können dessen Psychotricks nichts anhaben. Oder doch? Hat sein Chef etwa eine Evaluation in Auftrag gegeben? Auf einmal steht Schotti vor der Frage : lieber den Job behalten oder lieber seine Würde? Und wie immer findet Schotti seine ganz eigene Antwort darauf.

Jurybegründung

„Sind Sie sicher?“ – mit dieser Frage quält Herr Grimmehein, Chef einer Unternehmensberatung und wunderbar maliziös gespielt von Sebastian Blomberg, seine Mitarbeiter und auch Tatortreiniger Schotty mit diabolischer Lust. Die Überreste von Grimmeheins Wirken haben Schotty in eine Consulting-Firma geführt – ein Mitarbeiter hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Schotty lernt eine Welt kennen, in der im Karrierehamsterrad strampelnde Mitarbeiter seit Nächten nicht geschlafen haben und Toilettengänge zeitlich erfasst werden. Wohlgemerkt des ganzen Teams, damit niemand den Kolleginnen und Kollegen wertvolle Zeit stiehlt. „Toilettenzeit-Gesamtkontingent“ nennt sich das, Teamwork der etwas anderen Art. Auch Schotty wird von Grimmehein verunsichert und gedemütigt – bis er schließlich den Spieß umdreht.

Die Serie „Der Tatortreiniger“ ist großartige Unterhaltung und ein singulärer Glücksfall im deutschen Fernsehen. Besetzung, Regie und Drehbücher mit ebenso intelligenten wie präzisen Dialogen – hier stimmt einfach alles. Wie die gesamte Serie lebt auch die Folge „Sind sie sicher?“ von ihrem subtil-trockenen Humor und von der skurrilen Überzeichnung. Und doch zeigt sie gleichzeitig auch ein Szenario, das stellenweise so nah an der Realität ist, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Die Alternative „Job oder Würde“ mag zugespitzt klingen, aus der Luft gegriffen ist sie keineswegs.

Artikel 1 der Menschenrechte verweist, ebenso wie das deutsche Grundgesetz, auf die Würde des Menschen. Die Folge „Sind Sie sicher?“ beweist, dass Humor auch ein großes kritisch-aufklärerisches Potenzial haben kann. Sie regt zum Nachdenken darüber an, was von der Würde des Menschen übrig bleibt, wenn Performance zum einzigen Maßstab erhoben wird. Wenn der Satz Grimmeheins „Wir sind alle Menschen“, mit dem er Consultings zu beginnen pflegt, in sein zynisches Gegenteil verkehrt wird.

Doch auch die Bildungs- und Schullandschaft ist ein Tatort, an dem Schotty gebraucht wird. Auch hier ist der Leistungsimperativ allgegenwärtig und mitunter übermächtig. Auch hier wird manchmal weniger der junge Mensch als sein „Output“ in Form von Noten gesehen. Auch hier müssen bereits Viertklässler zu Performern ihrer eigenen Bildungs- und Lebenskarriere mutieren. Ein Tatbestand, der sich im anschließenden Berufsleben nicht selten fortsetzt. Die Episode enthält eine Vielzahl an Themen, über die man ausgiebig im Unterricht und in der Jugendarbeit diskutieren kann. Und bietet Schotty nicht auch konkrete Hilfe für zukünftige Dialoge mit Vorgesetzten oder Lehrkräften? Das jedenfalls wäre lebensweltliche Kompetenzorientierung, wie sie sich kein Lehrplan schöner ausmalen könnte.

Darf man in Fragen der Menschenrechte und der Menschenwürde lachen? Im Falle des Tatortreinigers kann man diese Frage nur unbedingt bejahen.

Wir sind uns sicher: Der Tatortreiniger wird auch in der Bildungslandschaft aufräumen. Herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Menschenrechtsfilmpreis.